Geschichte einer Klientin « zurück

Kath SG
Die andere Seite

Eine Frau, alleinerziehend und vom Sozialamt abhängig, sinniert in einer Fortsetzungsreihe über das Leben in der Schweiz.

Unser Land, die Schweiz: Wunderschön mit ihren Bergen, Seen und Wäldern, kleinen Dörfern sowie riesigen, pulsierenden Städten. Circa 8,081 Millionen Menschen haben in der Schweiz ihre Heimat gefunden, leben und arbeiten in diesem Land. Dabei sind die Möglichkeiten so vielseitig wie das Land selbst. Vom Kaufmann über den Firmenchef in einer grösseren Stadt bis hin zum Bergbauern in einem kleinen Dorf in den Alpen. Man könnte denken, eigentlich sei in diesem Land alles perfekt. Jedoch ist nicht alles wie es scheint. Die Schweiz ist im Vergleich zu anderen Ländern dieser Welt eher klein, aber die Schlucht zwischen den zwei Seiten der Gesellschaft ist riesig. Jeder achte Mensch in der Schweiz ist Millionär, d.h. circa 330‘000 Menschen in der Schweiz. Sie leben wo und wie sie wollen. Sei es in einem schönen Haus am Seeufer von Zürich oder in einer grossen Villa in Zug. An den schönsten Orten der Schweiz, denn sie können es sich ja selbst aussuchen. Ohne Angst und Sorgen, was die Zukunft wohl bringt, denn ihre Zukunft ist sicher. Entweder diese Menschen hatten einfach Glück und sind so zu ihrem Vermögen gekommen oder aber sie haben es sich ihr Leben lang hart erarbeitet. Allein die Möglichkeit, sich ein Vermögen zu erarbeiten oder die Chance, sich ein Vermögen erarbeiten zu können, bedeutet für die andere Seite schon Luxus, denn die andere Seite, das sind ca 250‘000 Menschen in der Schweiz, die von Sozialhilfe leben. Jeder Dritte unter ihnen ist noch nicht einmal 18 Jahre alt.
Wie kommt es dazu? Wahrscheinlich spielen viele Faktoren eine Rolle. Oft ist es so, dass die Jugendlichen im Alter von 14-16 eher weniger Lust auf Schule haben als sie es haben sollten. In diesem Alter ist es den meisten auch egal, wenn andere zu Ihnen sagen: Denk an später, das wirst du bereuen oder So bringst du es zu nichts…
Später dann, wissen sie, was damals gemeint war. Andere Gründe sind bestimmt auch die schlechte Lage auf dem Arbeitsmarkt. Hat man hier in der Schweiz nicht die besten Schulen abgeschlossen, bleiben einem viele Türen verschlossen, und das hat nichts damit zu tun, dass man dumm ist. Es hat nun mal einfach nicht jeder die Papiere, die beweisen, dass man nicht dumm ist. Das wiederum liegt am fehlenden Geld für gesagte Erwachsenenbildungen und somit beisst sich die Katze immer wieder in den Schwanz. Wer länger als 5 Jahre keine Anstellung findet, gilt auf dem Sozialamt oft als „Langzeitarbeitsloser“ und somit als hoffnungsloser Fall.


Aber eigentlich handelt es sich nicht um hoffnungslose Fälle, sondern um Menschen. Menschen mit einer Geschichte, die so individuell ist, wie sie selbst sind. Ja, Sozialhilfeempfänger sind auch Menschen. Viele vergessen das. Besonders diese Menschen, die das Privileg geniessen, auf der anderen Seite leben zu dürfen. Ich sage bewusst „dürfen“, denn jeder Mensch sollte bedenken, dass alles endlich ist. Alles. Niemand hat eine Garantie dafür, dass sein Leben immer so bleibt, wie es ist, und dabei spielt Geld keine Rolle. Nichts bleibt für immer so, wie es in diesem Moment ist. Nichts Gutes aber auch nichts Schlechtes. Alles ist endlich. Das Gute kann sich so schnell in etwas ganz Schlechtes verwandeln und etwas Schlechtes kann genauso schnell zu etwas Wunderbarem werden. Nichts ist für immer, so wie es ist. Darauf gibt es eine Garantie. Es gibt auch etwas, was man mit Geld nur teilweise erwerben kann, jedoch niemals ganz. Das ist die Gesundheit. Die Gesundheit ist ein Geschenk. Wenn du gesund bist, dann sei dankbar für deine Gesundheit.Wenn Du jetzt denkst; „Ach, ich muss mir da keine Sorgen machen, ich habe ein so grosses Vermögen, ich kann jede Therapie und jede Behandlung bezahlen, um wieder zu gesunden, falls ich krank werde...“ oder aber falls du auf der anderen Seite der Gesellschaft stehst und denkst: „Ach, die reichen Menschen, die können sich ja alles leisten, denen kann gar nichts passieren, die haben doch das Geld, um jegliche Behandlung usw. zu bezahlen...“
Kannst Du sehen wie unterschiedlich und doch so gleich diese beiden Aussagen sind? Es sind zwei verschiedene Aussagen von zwei verschiedenen Menschen aus derselben Gesellschaft, die jedoch auf der jeweils anderen Seite als der andere stehen. Für beide habe ich jedoch dieselbe Antwort: „Nein. Es gibt einen Punkt, an dem auch Geld nichts mehr hilft und nichts bewirken kann.“ Vergiss das nicht! Und sei dankbar für deine Gesundheit. Du hast sie nur einmal! So, nun zurück zu den Menschen, die auf der anderen Seite stehen dürfen, auf der „Sonnenseite“, nennen wir sie so. Seien wir doch mal ganz ehrlich, für diese Menschen sind doch Sozialhilfeempfänger einfach nur eine „Last der Gesellschaft“. Eigentlich wird über Sozialhilfeempfänger doch gesagt: Sie sind doch nur zu faul, arbeiten zu gehen, geben sich ja eh keine Mühe, in der Arbeitswelt Fuss zu fassen, sind assozial und wollen ausserdem gar nicht arbeiten. Die schlafen lieber bis ca. 15.00 Uhr nachmittags und freuen sich über das Geld, welches sie jeden Monat einfach für's Nichts tun bekommen. Und das dann auch noch von unseren Steuergeldern! Unfassbar! ...

Eine Frage, an die, die auf der Seite leben dürfen, auf der so über Sozialhilfeempfänger gesprochen wird: Ist es denn wirklich so schlimm, wenn man weiss, dass man mit seinem Geld, also den Steuergeldern, diesen Leuten in unserer Gesellschaft, die aus irgendwelchen Gründen nicht auf der Sonnenseite leben können, aber im selben Land leben, zur selben Gesellschaft gehören wie Ihr, hilft? Es muss ein grausam schlimmes Gefühl sein zu helfen, wenn man einmal über die Worte nachdenkt, die über diese Sozialhilfeempfänger gesagt werden...


Ich würde dir gerne eine Geschichte erzählen... Es ist eine wahre Geschichte und sie passiert hier, hier in der Schweiz. Da, wo du lebst. In dieser Geschichte geht es um eine junge Frau. Die hatte nach Ihrer Schulzeit das unfassbare Glück, im Anschluss eine Lehrstelle gefunden zu haben. Sie hat einen Ausbildungsplatz gefunden, wo doch so viele junge Leute einer der begehrten Ausbildungsplätze haben wollen. Sie ist immer pünktlich und hat Ihre Aufgaben, die sie vom Lehrmeister bekommen hat, immer sauber erledigt. Schnell hat sie jedoch gemerkt, dass dieser Beruf eine Veränderrung mit sich brachte. Eine Veränderung an ihrem Körper. Sie hat es jedoch ignoriert, denn sie wollte diesen Ausbildungsplatz nicht verlieren oder aufgeben, sie wollte doch diese Ausbildung absolvieren und mit einem guten Abschluss beenden... Aber irgendwann ging es nicht mehr. Sie war allergisch auf ein Mittel, das in diesem Beruf geradezu täglich benutzt wurde. So musste der Lehrvertrag und damit auch der Ausbildungsplatz aufgelöst werden.
Sie war nie faul und so hatte sie schnell wieder etwas Neues gefunden. Es war eine Anstellung in einem Geschäft, das für externe Firmen Waren vertrieb. Sie war eine der besten Verkäuferinnen dort und wurde von Mitarbeitern und Vorgesetzten sehr geschätzt. Oft hatte sie die Höchstzahl an Tagesabschlüssen, was daher kam, dass sie ein unglaubliches Talent besass. Die Kommunikation. Die Sprache und das Talent, „verkaufen zu können“.
Leider blieb das Glück auch dieses Mal nicht sehr lange bei ihr und so kam es, dass alle Mitarbeiter dieses Geschäfts ihre Arbeitsstelle verloren haben, auch sie, weil das Geschäft einfach nur noch rote Zahlen schrieb und Insolvenz anmelden musste. So musste sie sich, wie es in der Schweiz so üblich ist, auf dem RAV anmelden. Von diesem Tag an ging es bergab wie auf einer Achterbahn, die einfach nach unten fährt. Sie war nun gezwungen, die geforderte Anzahl an Bewerbungen dem RAV zu übergeben, ganz egal, für
was. Ob diese Stelle nun ihren Talenten und oder Qualifikationen entsprach oder nicht. Jede Stelle hätte sie anzunehmen, falls sie irgendwo eine Möglichkeit bekommen würde zu arbeiten. Wenn sie die geforderte Anzahl nicht bringt oder die Frechheit besitzen würde, eine Stelle nicht anzunehmen, weil zum Beispiel der Arbeitsweg zu lange wäre, dann wird das Geld, das am Ende des Monats ausgezahlt wird, gekürzt werden und zwar massiv. (Ausserdem, verlangt das RAV einen Arbeitsweg von 4 Stunden in Kauf zu nehmen!) 4 Stunden? Also 4 Stunden Hinfahrt zum Geschäft auf der anderen Seite der Schweiz, 8 Stunden Arbeiten und 4 Stunden Rückfahrt nach Feierabend. Wenn man dann 8 Stunden schläft, dann sind die 24 Stunden des Tages um... Ein reich erfülltes Leben!

Sie hat keine Stelle gefunden. Das RAV hat sie dann in ein so genanntes „Arbeitsintegrationsprogramm“ verwiesen. Das ist ein Ort, an dem Arbeitslose hingehen müssen, um irgendwelche Arbeiten (putzen, Küchenhilfe, Serviecemitarbeiter usw) unentgeltlich zu erledigen haben. Weigern sie sich, dahin zu gehen, wird das Geld gekürzt. Sie ging dahin. Unglücklicherweise wurde sie in ein Programm vermittelt, was dazu diente, schwer drogenabhängigen Menschen einen geordneten Tagesablauf zu ermöglichen. Jetzt putzte sie den ganzen Tag sinnlos vor sich hin, liess sich erniedrigen von den Menschen, die da (bezahlt) angestellt waren, um auf die (unbezahlten) anderen Menschen „aufzupassen“, musste sich beleidigen, anspucken und bedrohen lassen...


Ein Mann in diesem Programm hatte ihr jeden Tag gedroht, er würde sie irgendwann beissen, wenn sie nicht endlich abhauen würde. Sie würde da nicht hingehören, sie wäre ja eh nur hier, um sich über die anderen lustig zu machen. Er hatte also sogar gesehen, dass diese Frau im falschen Programm war! Also ganz offensichtlich war es das falsche Programm, denn sie hatte nie ein Drogenproblem oder sonstiges. Sie hatte lediglich ihren Job verloren... Das RAV jedoch hatte dies nicht interessiert. Als sie sich da Hilfe holen wollte und auf Verständnis hoffte, hat sie verstanden, dass es keine Hilfe und noch weniger Verständnis gibt. Nur Drohungen. Wenn Sie meinen, Sie müssten da nicht mehr hingehen, wissen Sie, dass es Kürzungen gibt. Als dieser Mann in diesem Programm, dann tatsächlich eines Tages auf sie losgehen wollte, rannte sie weg und hat auch im selben Moment dieses Programm abgebrochen. Die Kürzungen nahm sie in Kauf. Sie hat halt einfach weniger gegessen. Wenn man nach dem RAV „ausgesteuert“ ist, dann rutscht man eine Etage tiefer runter. Herzlich willkommen auf dem Sozialamt! Sie hat es also tatsächlich geschafft, auf dem Nullpunkt anzukommen. Im subsidiären System ist das Sozialamt der unterste Punkt. Das bedeutet, wenn man da angekommen ist, dann hat man am Ende des Monats am wenigsten von allen. Ein Mensch, der von Stipendien lebt beispielsweise, hat mehr, denn Stipendien sind im subsidiären System oben am Sozialamt. Die junge Frau hat sich mehr als nur bemüht um eine Stelle, einen Hilfsjob oder einen Ausbildungsplatz. Allerdings hat sie niemals eine Chance bekommen. Sie wurde schwanger, von einem Mann, der sie sitzen liess. Sie hat sich für das Kind entschieden! Und für das Leben als alleinerziehende Mutter! Da kann man nun auch wieder darüber urteilen und sie deshalb als schlecht darstellen. Denn sie hatte ja kein Geld und wie will sie auch ein Baby von Sozialhilfe grossziehen?! Nun, für diese Frau ist Abtreibung dasselbe wie Mord. Denn sie ist der Meinung, dass ein Baby vom allerersten Moment, in dem es klar ist, dass eine Frau schwanger ist, lebt! Denn wie sonst sollte man erkennen, dass eine Frau schwanger ist, wenn es kein Leben ist?! So hat sie sich, wie gesagt, für dieses Kind entschieden – und sie hat es nie bereut!
Jeden Morgen um 07.00 Uhr früh steht diese Frau pünktlich auf. Kümmert sich täglich um Haushalt, Sauberkeit, gesundes und frisches Essen und bestmögliche Förderung für ihr Kind! Sie hält Ihre Wohnung sauber und ordentlich. Bei ihr könnte man direkt vom Boden essen. Es liegt nichts herum! Sie kocht frisch und gesund. Spielt mit ihrem Kind und fördert es mit altersentsprechender Kleinkindförderung! Sie tut alles für ihr Kind! Irgendwann, so gegen 20.00 Uhr, ist der Tag beendet und das Kind schläft. Und dann, dann schreibt sie Bewerbungen... Pro Jahr ca. 480 Bewerbungen! Pro Jahr! Nicht in ihrem ganzen Leben! Bewerbungen als einfach Alles!


Sie hat eine Top Bewerbungsmappe und alle Unterlagen fein säuberlich, wie es sich gehört, darin eingereiht. Nur, ein Vorstellungsgespräch, das bekam sie nie! Wenn einmal (was sehr selten vorkam) eine Firma eine Absage schickte, dann stand da lediglich „Es tut uns leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir bereits jemanden für die Stelle gefunden haben. Wir wünschen Ihnen bei Ihrer weiteren Suche viel Erfolg und alles Gute.“ Von 480 Bewerbungen bekam sie lächerliche 7 Briefe mit diesen leeren Worten zurück! Und vom Rest der Firmen hat sie nie etwas gehört. In der Schweiz hat sie eigentlich das Recht auf eine Erstausbildung. Allerdings hatte sie bereits dreimal versucht, Stipendien zu beantragen, und ist dreimal gescheitert. Denn die Möglichkeiten, die in der Schweiz für eine alleinerziehende Mutter bestehen, doch noch eine Ausbildung zu absolvieren, bestehen aus Privatschulen. Diese bieten Ausbildungsplätze an mit einem EFZ (Eidgenössisches Fähigkeitszeugnis) als Abschluss. Wenn man allerdings Stipendien für eine genau solche Privatschule beantragt, bekommt man sie nicht gutgesprochen. Probleme, Probleme und nur Probleme... Das ist das Leben dieser jungen Frau. Und denkst du wirklich, dass sie gerne so lebt? Dass sie bis 15.00 Uhr schläft, sich freut auf das Geld, das am Ende des Monats kommt (und glaube mir, es ist NICHTS!)? Nichts ist nichts, was man teilen kann! Und der Grundbedarf der Sozialhilfe ist nichts! Das ist kein Leben! Das ist nur eine Existenz in einem Land, welches als so reich gilt! Diese Frau ist eine von so vielen. Von so vielen, die als Abschaum der Gesellschaft gesehen werden! Ja, mit denen ja niemand etwas zu tun haben möchte! Ist diese Frau Abschaum, weil sie sich FÜR das Leben ihres Kindes entschieden hat und es nicht getötet hat? Wäre diese Frau ein besserer Mensch, wenn sie das Gegenteil getan hätte?
Sehr geehrter Herr Banker, der von der Sonnenseite: Liegt es sich gut im warmen Bett um 07.30 Uhr? Nun, um diese Uhrzeit hat diese Frau in der Geschichte bereits gefrühstückt und bringt ihr Kind mit dem ÖV in die Schule. Denn ein Auto darf sie nicht besitzen, weil sie Sozialhilfeempfängerin ist. Und Du? Drehst du dich im Bett noch einmal um, bevor Du dann um 08.30 Uhr zu deiner Arbeit fährst und dort wieder mit deinen Arbeitskollegen über den Abschaum der Gesellschaft herziehst? Falls du das hier lesen kannst, dann lese noch einmal den Anfang dieser Geschichte. Es gibt einen Satz, an den du dich erinnern sollst, wenn du das nächste Mal über die armen Menschen der Gesellschaft lachst und über diese Menschen sprichst, von denen du die einzelnen Geschichten nicht kennst...

Alles ist endlich.

C.
 
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