Kräutertopf

Sie streckt ihre Nase über die wachsenden Kräuter im Topf, streicht mit den Händen ihre Düfte hoch, schaut auf die Keimlinge, die knospenden Blumen nebenan und sagt: "Daran kann ich mich immer wieder von neuem erfreuen!"

Langeweile

"Es ist öde hier im Pflegeheim", sagt der alte Mann, "aber wenn der Tod kommt, ist es mir auch nicht recht."

Farbe

Menschen wie Sie geben mir eine neue Farbe fürs Leben.

Hunderttausend

Die Mädchen, die während meines Gesprächs mit der Mutter malen, hängen ihre Bilder an der Magnetwand auf. Bevor sie gehen, sagt das eine: „Lassen sie die Bilder hängen“ und das andere: „Hunderttausend, Hunderttausend!“
Ich lasse sie in meinem Herzen hängen für die Ewigkeit.
 

Brot

"Brot findet man in der Schweiz überall", sagt der Einwanderer, "aber ein freundliches Lachen?"

Deuten

Der 14-jährige Junge hat einige Delikte begannen, im Alkoholrausch auch Schlägereien gehabt. Deshalb musste er in die geschlossene Abteilung eines Jugendheims. Nach Monaten klarer aber auch liebevoller Führung scheint sich etwas in ihm gewandelt zu haben. Er sagt: "Viele Dinge haben eine gute Bedeutung."

Mein Schatz ist gegangen

Mein Schatz ist gegangen, sagt der 91-jährige Mann.
Jetzt ist sie gerade noch so viel Asche, sagt er und fügt Daumen und Zeigefinger zu einem Kreis zusammen.
Wir haben es so schön gehabt, sagt er und weint.
 

Sozialarbeit

... ist machmal auch die Befriedung eines Bedürfnisses, das der Klient noch gar nicht kennt.

Furcht

"Auf der Strasse ist Furcht wichtiger als Liebe", sagt ein Junge, der wegen mehrerer Delikte im geschlossenen Heim ist.

Ausgeschöpft

1. August 2015
Sie sei ausgeschöpft, vielleicht gerade weil sie keine Arbeit habe, sagte die junge Frau.

Stimme bei Gott

26 Mai 2015
Mit einer Frau, die ursprünglich aus Jamaica kommt, gehe ich die Post durch und stosse auf das Couvert mit den Abstimmungsunterlagen. "Für was ist das", fragt sie, "für günstigere Wohnungen, für Arbeitsstellen? Ich habe nur eine Stimme bei Gott." 

Ausserhalb des Gesetzes

21 Mai 2015
Er steht in seinem Laden, halbleere Regale mit Einmachgläsern, Konserven und drei Dosen Bier. Keine Käufer mehr, aber einen Mietvertrag für das Ladenlokal, der noch länger als ein Jahr dauert. Er hat eine Frau und drei Kinder. Ihre Eltern, irakische Christen, werden von dem islamischen Staat verfolgt. Raum zwischen Betreibungs-, Arbeits- und Sozialamt ruft nach Verstanden-Sein ausserhalb des Gesetzes.

Auch ohne Bewilligung

11 Mai 2015
Der Klient hat einen Antrag auf Familiennachzug eingereicht. Seine Frau und die Kinder leben schon einige Monate in der Schweiz. Das Verfahren zieht sich dahin. Hr. S. meint gelassen dazu: „Das Leben geht auch ohne Bewilligungen weiter.“

Aus jeder Ecke

27 April 2015
"Mit 85 hat mich meine Mutter zum letzten Mal besucht", erzählt die Frau ,"danach ging es bergab mit ihr. Jetzt bin ich selber alt, aber aus jeder Ecke spricht  Gott mit mir."

Von Herzen sprechen

14 April 2015
Ein Mann, der den Aufstand in Tunesien 2011 erlebt hat, erzählt: "Wenn einer aufsteht und zu anderen spricht und die Idee kommt in seinen Kopf, er sei gut oder Lehrer der anderen, dann ist zu fünfzig Prozent falsch, was er sagt, weil er nicht von Herzen spricht."

Nicht allein

7 April 2015
"Beim Einkaufen", erzählt die alte Frau, "mache ich ein bisschen länger, weil ich dann Menschen um mich habe."

Nicht mir nach

24 März 2015
Auf meine Frage, wie es ihr gehe, meinte die alte Frau: „Mir geht es wunderbar! Ich denke nicht mir nach.“

Unsterblich

11 Februar 2015
In einem Beratungsgespräch sagt die Mutter: "Meine Tochter will nicht mehr leben - aber sie kann sich doch nicht umbringen, sie ist doch unsterblich!"

Begegnung mit dem Tod

20 Januar 2015
Ich will gehen …
Es wird schon recht gehen.
Sie nimmt meine Hand, ich spüre ihren Puls wie ein leises Zittern.
Miteinander geht es besser …
Muss ich mir noch etwas überlegen?
Glucksen von der Heizung, zwei Autos rauschen vorbei.
Sie müssen sich nichts mehr über-legen, antworte ich.
Sind wir komplett?
Ja, wir sind komplett.

Bernhard Brack

Der Kugelschreiber

6 Januar 2015
Es gibt das Messer, die Kugel und den Kugelschreiber. Wenn der Stadtpräsident den Kugelschreiber nicht in die Hand nimmt und mir hilft, weiss ich nicht, was passiert.

Danke

22 Dezember 2014
"Vielen Dank für die Beratung", meinte der alte Mann und fügte hinzu: "Ich habe zwar schon wieder vergessen, was Sie gesagt haben, aber es hat mir gut getan."

Anders gelagert

15 Dezember 2014
Wenn du in deinem Leben immer gearbeitet hast und dann in ein Altersheim kommst, wirst du ganz anders gelagert, alles läuft nach Schema.

Wenn ich bete

8 Dezember 2014
Die alte Frau im Altersheim sagt: "Wenn ich bete, weiss ich, warum ich hier bin."

Bleib nicht kleben

1 Dezember 2014
Die alte Frau wirkt ganz aufgeräumt, wie wir über den Tod sprechen: "Wie es sein wird, wenn wir gestorben sind? Ach, ich weiss es nicht. Bleib nicht kleben an diesem Leben."

Wie weiter

3 November 2014
"Und", fragt die alte Frau, "wie geht es weiter?" Sie hält einen Augenblick inne und fährt fort: "Ach, da müssen wir nicht studieren: Es geht immer weiter, jetzt ist es schon weiter gegangen."

Wie in Trance

9 Oktober 2014
"Sie sorgen gut für mich", sagt die alte Frau. Schaut wie in Trance vor sich hin. "Das ist Gold wert." Wieder schaut sie lange vor sich hin, als sähe sie es schon, das andere Land. Ein Speicheltropfen, der vom Mundwinkel herabläuft, weckt sie aus der Trance. "Wem ich dafür zu danken habe, brauche ich nicht lange zu studieren."

Schämen wofür

16 September 2014
Verleugne nie dein wahres Leben, denn Armut ist nichts, wofür man sich schämen muss.    Janus Keller

Warum Angst

27 August 2014
Als wir mit einer alten Frau über die Angst vor dem Tod sprachen, meinte sie: "Warum sollte ich Angst haben vor etwas, das sowieso kommt."

Ausgefüllt

18 August 2014
Ob sie sich manchmal nicht einsam fühle, fragte ich die alte Frau. "Nein", sagte sie, "ich bin ganz ausgefüllt mit dem, was ich sehe."

Glauben ohne Glaube

8 April 2014
Der Mann, der wegen einer unheilbaren Krankheit in eine tiefe Krise geraten ist, sagt: "Ich kann nicht mehr mit vorgegebenem Glauben leben, sondern strecke die Fühler aus und lerne zu glauben ohne Glaube."

In Gottes Wunsch

19 März 2014
Ob sie das nicht bekümmere, dass sie nicht mehr gehen könne, fragte ich die alte Frau. Nein, antwortete sie, sie sei nicht mehr hier, sondern in Gottes Wünschen zuhause.

An wen ich denke

13 März 2014
"Ich denke nicht an mich", sagt die alte Frau. "Warum auch? Es geht mir ja sowieso so, wie es mir geht."

Versicherung

5 März 2014
Der Vermieter habe von ihr verlangt, eine Hausratversicherung abzuschliessen, aber sie wolle lieber bei der türkischen Botschaft eine Versicherung abschliessen, die für den Rückflug ihrer Leiche aufkomme, damit sie in ihrer Heimat beerdigt werden könne.

Zu kurz

11 Februar 2014
Man kann den Problemen nicht aus dem Weg gehen, dafür ist das Leben zu kurz.

Janus Keller

Verzweiflung

3 Februar 2014
„Wie kann ich mich öffnen“, fragt die psychisch kranke Frau mit einer Verlorenheit, als läge die Antwort in einer Muschel verschlossen, die ihrerseits verborgen unter tausenden von Muscheln in den Tiefen des Meeres liegt.

Not als Inspiration

21 Januar 2014
Ein Mensch, der kein Vertrauen hat, hat kein Leben, denn das Leben geht an ihm vorbei.

Janus Keller

Aufräumen Richtung Licht

8 Januar 2014
Der 45-jährige Mann hat ein hektisches Leben geführt, ist rastlos von einem Ort zum anderen gereist und hat viele Phasen des Chaos durchlebt. "Aber jetzt", sagt er, "muss ich langsam aufräumen - Richtung Licht."

Ornella Müller, Sozialarbeiterin i.A.

Teil der Gesellschaft

30 Dezember 2013
Beim Gespräch über sein bewegtes Leben meint der Mann aus Afrika zu mir: "Ich will nicht nur, dass mir geholfen wird, sondern dass auch ich anderen helfen kann. Ich will ein Teil der Gesellschaft sein und ein Nutzen für sie."

Ornella Müller, Sozialarbeiterin i.A.

Eine Belastung für die Gesellschaft

16 Dezember 2013
Ich bin mit einer älteren Dame auf einem Spaziergang durch die Stadt unterwegs. Beim Gespräch über ihren Rollator hält sie plötzlich inne und sagt: „Mengmol bin ich richtig hässig uf min Charrä!“ Wenn man alt werde, könne man einfach nicht mehr überall mitmachen. Man werde zu einer Belastung für die Gesellschaft: „Ich bruch immer öpper, wo mir mit em Charrä in Bus inehilft.“

Ornella Müller, Sozialarbeiterin i.A.

Alt-Wiiber-Gruch

11 November 2013
Bei einem Besuch mache ich einer älteren Dame ein Kompliment, weil sie gut riecht. Sie zeigt mir das Fläschchen – ein Männerparfum. Dann lacht sie und sagt: „Weisch, au wenns für Männer isch, muesch doch öppis mache geg dä Alt-Wiiber-Gruch!“

Ornella Müller, Sozialarbeiterin i.A.

Der Duft des Kleiderschranks

6 November 2013
Ich sitze mit einer älteren Frau in ihrem Zimmer im Altersheim. Nach einer Weile sagt sie zu mir: „Weisst du, wenn ich hier den Kleiderschrank öffne, dann riecht es einfach nicht nach meinem Zuhause…“ Ornella Müller, Sozialarbeiterin i.A.

Unergründlich

28 Oktober 2013
Ich begleite die alte Frau, die am Rollator geht, durch einen langen Gang im Altersheim. Plötzlich bleibt sie stehen: "Manchmal sehe ich, dann wieder nicht." Sie schiebt den Rollator wieder an, geht langsam weiter und meint: "Seine Pläne sind unergründlich."

Hirnkrampf

21 Oktober 2013
„Wenn du etwas machen willst, dann musst du einfach mal anfangen. Wenn du nämlich immer nur darüber nachdenkst es zu tun, bekommst du einen Hirnkrampf."

Bei den Engeln

14 Oktober 2013
Wenn ich aus dem Fenter schaue, sehe ich, was ich früher um diese Zeit schon erledigt hatte, erledigen musste! Um dir das zu erzählen, müsste ich all die Jahre wieder vor mir auslegen - dazu bin ich zu müde. Auf Wiedersehen. Und falls wir uns nicht wieder sehen, bei den Engeln.

Wie ein Vogel

8 Oktober 2013
Eine ältere Dame sitzt in ihrem Zimmer auf dem Bettrand und erzählt aus ihrem bewegten Leben. Nach längerem Schweigen sagt sie: "Ich lebe wie ein Vogel, von Minute zu Minute..."

Befreiung

23 September 2013
Ein Mann beim Gespräch über die Religion und die Kirche: "...Ich strecke die Fühler aus um zu lernen, auch ohne vorgegebenen Glauben zu glauben..."

I have to bow low

28 August 2013
Der junge Mann aus Afrika setzte hohe Erwartungen in die Schweiz, als er mit einer B-Bewilligung aufgenommen wurde, doch hat er bis heute keine Arbeit gefunden, von einer Ausbildung zum Dolmetscher ganz zu schweigen. Nach Wochen des Zweifelns und Haderns sagt er auf Englisch: „Ich muss mich tief verneigen, um Allahs Geschenke zu bekommen.“

Sich selber machen

28 Mai 2013
Die alte Frau lebt alleine im Altersheim. Ausser vom Sozialdienst bekommt sie kaum Besuche. Und jetzt naht körperliche Abhängigkeit. "Bisher", sagt sie, "habe ich mich selber immer selber gemacht."

Glauben lernen

14 Mai 2013
Die 92-jährige Frau sitzt auf ihrem Bett im Altersheim und sagt: "Man muss immer weiter lernen und glauben und glauben lernen, was man noch nicht glaubt."

Hetzen und warten

29 April 2013
Der Bus fährt an, kaum hat sich die alte Frau an einer Stange festgehalten.
"Gut, dass Sie es geschafft haben", meinte jener Fahrgast, der den Türknopf gedrückt hatte, bis sie eingestiegen war. "Wäre nicht so schlimm gewesen", antwortete sie. "Wissen Sie, die eine Hälfte des Lebens pressiert man, die andere wartet man."

Einfach

28 März 2013
Die alte Frau sagt: Mein Leben ist einfach und bleibt einfach. Gott ist mein Ziel. Weiss du noch etwas anderes?

Weiss und schwarz

4 März 2013
Die alte Frau träumt: Zwei Autos kommen angefahren, ein schwarzes von rechts und ein weisses von links, schieben sich ineinander und bilden ein neues Gefüge, weder weiss noch schwarz, weder gut noch böse. Ich beginne, es neu zu bemalen.

Nichts zu tun

20 März 2013
Nachts kommt mir hoch, was ich noch alles erledigen sollte, und am Tag ist nichts mehr da, was ich tun könnte.

Du kommst nach links

4 Februar 2013
„Ich kann nicht mehr nach Hause“, sagt die alte Frau in der Geriatrie. „Und jetzt kommt alles hoch, was früher war. Mutter sagte zu mir, sie war eine Liebe, aber … sie sagte zu mir, weil ich so ein Wildfang war: Irgendwann stehst du vor Gott und die Guten kommen nach rechts und die Bösen nach links. Und du kommst nach links.“

Viele Nuancen

4 Februar 2013
Der alte Mann, der nach einer Lungenentzündung beinahe gestorben wäre, sagt: "Der Abschied hat so viele Nuancen, dass ich ihn gar nicht mehr wahrnehme."

Gwehrig

22 Januar 2013
Ich begegne der 91-jährigen Frau auf dem Gehsteig.
„Jetzt hat es mich gerade wieder in den Rücken gezwickt. Mein Ischias-Nerv  ist eingeklemmt. Man sollte nicht so alt werden wie ich, habe ich neulich zum Arzt gesagt. Und wissen Sie, was er geantwortet hat? Das sagen Sie, die sich nach allen Seiten hin wehrt?“

Überlassen

17 Dezember 2012
"Die Pflege ist gut hier, so kann ich gesunden", sagt die alte Frau im Pflegeheim. "Und den Rest überlasse ich Gott. Er soll entscheiden, was gut ist und was nicht, ihm lege ich mein Leid hin."

Ganz viel Zeit

4 Dezember 2012
Kaum ist die Klientin gegangen, zehn Minuten vor dem nächsten Termin, läutet es. Nach einer kurzen Begrüssung beginne ich: "Ich habe jetzt keine Zeit, aber ..."
Der junge Mann unterbricht: "Aber ich habe ganz viel Zeit."

Zu gross für meinen Kopf

20 November 2012
Ich kann nicht schlafen in der Nacht, muss immer denken, denken. Das Leben ist zu gross, es will nicht in meinen Kopf!

(Alleinerziehende Mutter aus Kleinasien)

Mein Sohn

29 Oktober 2012
"Mein Sohn würde mir jeden Stern vom Himmel holen! Natürlich nutze ich es nicht aus, aber es tut gut zu wissen."

Im Schlichten daheim

21 August 2012
„Ich bin nie einsam“, sagte die 91—jährige Frau, „ich habe immer viele Ideen.“
„Welche Ideen denn?“
„Spazieren zu gehen oder wenn ich Hunger habe, etwas zu essen.“

Rückschau

2 Juli 2012
"Ich habe viel erlebt", sagt die alte Frau, "war hier und dort bei Verwandten, Bekannten, Eleganten und Charmanten. Jetzt beginne nochmals bei Null."
"Wie meinen Sie das?", frage ich.
"Irgendwann fliegt ein Rabe vorbei und wird es mir sagen."

Beim Spaziergang

10 September 2012


" Ich cha eifach nüme eso guet schnuufe -
also ich cha scho schnuufe
aber ich muess eifach schnuufe!"

Weisst du, was ich meine

28 Mai 2012
"Manchmal verliere ich den Kopf", sagt die alte Frau und erstarrt für eine Weile in ihrer Bewegung. "Wie eine Leere, ich weiss plötzlich nicht mehr, was ich tun wollte. Weisst du, was ich meine? Nein, du weisst nicht, was ich meine. Zum Glück sind dann oft liebe Leute da, die mir weiterhelfen."
 

Erster Preis

22 Mai 2012
"Es geht nicht immer darum, den ersten Preis zu gewinnen", sagte der alte Mann. "Heute zum Beispiel habe ich für meine Frau und mich abgewaschen, das gibt mir Befriedigung. Ja, im Sammeln von kleinen Freuden bin ich ganz vorne dabei!"

Das grosse Geschenk

12 März 2012
Die alte Frau sieht mich nur noch "wie einen Schatten". Den Weg in den Speisesaal findet sie gerade noch alleine. Auf die "Schwanzi" gehe sie nicht mehr, aber sie sei nicht unglücklich darüber. Plötzlich lächelt sie und sagt: "Ich bin dankbar für den Glauben, dass das Leben immer wieder weiter geht. Dazu braucht man nicht frömmlerisch zu sein."

Zitronen falten

1 Februar 2012
Ein Klient meint, oft fehle uns Sozialarbeitenden der Humor, und erzählt gleich einen Witz:
Wer glaubt, dass Sozialarbeiter sozial arbeiten, der glaubt auch, dass Zitronenfalter Zitronen falten.

Bleib nicht kleben

24 Januar 2012
Ich sprach mit der alten Frau über ihr Testament und allfällige Bestattungswünsche. Da reimte sie spontan:

Bleib' nicht am Leben kleben
es ist ja doch vergeben

Aufklärung von damals

16 November 2011
Mit 16 Jahren musste sie ihr Elternhaus verlassen – eine zu viel am Tisch, die sich den Mund abputzt – und arbeitete als Tellerwäscherin im Niederdörfchen in Zürich. Von ihrer Mutter wurde sie mit zwei Worten aufgeklärt: Sei brav!

Angst vor dem Tod

3 November 2011
Warum soll ich Angst vor etwas haben, was sowieso kommt?, fragt die alte Frau. Nein, ich habe keine Angst vor dem Tod, Angst habe ich vor einer Wespe, die in die Kaffeetasse fällt und wenn ich trinke, mir in den Mund sticht.

Langsam

25 Oktober 2011
Ich war schon lange Zeit bei der alten Frau gesessen und dachte an Aufbruch. Nach längerem Schweigen sagte ich floskelhaft: "So, ich gehe jetzt langsam", worauf sie antwortete: "Ja, gehen Sie langsam. Wenn Sie schnell gehen, vergessen Sie alles."

Ein Dödöli

3 Oktober 2011
Die Bernina sei ein Reissfluss gewesen, deshalb hätten ihnen die Eltern das Baden strengstens verboten. Sie habe nie schwimmen gelernt und noch heute Angst vor dem Wasser. Nun ja, jetzt sei sie trotzdem 85 Jahre alt geworden. Als ich sie anrief wegen eines verpassten Termins und nach langem Läuten lassen aufhängen wollte, nahm sie unerwartet doch noch ab: „Ach wissen Sie, ich habe gerade ein „Dödöli“ gemacht. Sie meinen wegen dem Notruf? Ja, das möchte ich gerne nochmals mit Ihnen besprechen.“ Noch vor dem gemeinsamen Termin starb sie an einer Hirnblutung, als hätte sie nicht gewollt, dass sie etwas an ihrem Abgang hindert.

Ein Rätsel

5 September 2011
Die alte Frau meinte, ihr sei es nie langweilig, es gebe immer etwas zu tun: "Es ist alles so ein Wunder, so ein Rätsel, wir kommen gar nie zu einem Ziel."

Auf den Spuren

9 August 2011
Das Leben ist eine einzige stumme Frage, die auf den Spuren der Antwort wandelt.

Auf den Spuren

9 August 2011
Das Leben ist eine einzige stumme Frage, die auf den Spuren der Antwort wandelt.

Wenn die Schmerzen wandern

16 Juni 2011
Mal tut mir hier etwas weh, mal dort, es wandert immer weiter. Und wenn ich denke, jetzt geht es wieder, geht es doch nicht mehr. Langsam verleide ich mir.

Fliegend weg

23 Mai 2011
Manchmal werde ihr alles zu eng, jeder Satz, den man an sie richte, sei ihr dann zu viel, sagte die Frau, die immer wieder an Angstzuständen litt. „Der Baulärm schnürt mich ein, die Gassen sind zu eng, die Blicke der Leute geisseln mich. Sogar die Buchshecke da macht mir Angst. Ich möchte weg sein, fliegend weg. Verstehen Sie? Nicht wegfliegen, sondern fliegend weg sein.“

Lebenslänglich

28 April 2011
Bei einer 92-Jährigen zu Hause. Sie fragt mich, wie ich alt ich bin. "36", antworte ich ihr. "Oh mein Gott", schiesst es aus ihr hervor, "Sie haben noch so viele Jahre zu leben und werden noch unzählige Erfahrungen machen müssen." Ich erschrecke ein wenig über den Ton in ihrer Aussage. Bis anhin hatte ich nicht das Gefühl, dass die hochbetagte Frau ihr Leben nicht genossen hätte. Nach einer Weile beschleicht mich ein Gefühl der Angst vor meiner Zukunft. Was genau wohl die alte Dame gemeint haben könnte?

Verändert aus der Krise

15 April 2011
"Es ist gut, dass ich in ein tiefes schwarzes Loch gefallen bin", sagt der 50-jährige Mann. "Wie meinen Sie das", frage ich neugierig. Nach einer kurzen Pause antwortet er: "In meiner Krise habe ich erkannt, dass ich gewisse Verhaltensweisen habe, die für meinen Körper sehr schädigend sind. Nun achte ich wieder vermehrt auf meine Gesundheit. Mit dem Rauchen hat es schon geklappt. Aus Geldmangel habe ich aufgehört, und es fällt mir gar nicht schwer."

Volljährig

6 April 2011
"Als ich 18 und volljährig wurde, warf mich mein Vater aus der Wohnung", erzählt mir die junge Frau. "Danach lebte ich ein Jahr lang mit einem älteren Mann zusammen, bis er mich verliess. Seitdem wohne ich alleine und habe keine Ahnung, wie ich den Alltag meistern soll. Niemand hat mir je erklärt wie ich administrative Angelegenheiten angehen kann und worauf ich alles zu achten habe."

Auf den letzten Stufen

11 März 2011
Plötzlich wurde es still im Zimmer der psychiatrischen Klinik. Nicht nur der alte Mann und ich schwiegen, sondern rundum schien jedes Geräusch in Stille zu versinken. Mit kratziger Stimme hob der alte Mann an: "Wissen Sie, weshalb ich überhaupt noch hier bin? Ich wollte mich vor den Zug werfen, bin aber auf den letzten Treppenstufen gestolpert und habe mir das Bein gebrochen."

Reiche Sprache

3 März 2011
Der Mann aus dem Irak: "Arabisch ist eine lebendige und reichhaltige Sprache. Schon der Wortschatz ist viel grösser als in der deutschen Sprache. Für die Bezeichnung "Löwe" existieren allein sechs verschiedene Ausdrücke."

Mit jedem Atemzug

25 Februar 2011
"Seit meinem Schlaganfall bin ich dankbar für jeden Tag, den ich noch erleben darf", erzählt die alte Frau. "Wenn ich vom Einkaufen nach Hause komme, danke ich erst einmal, dass alles gut gegangen ist. Oder wenn ich vom Kerzen Abfüllen im Kloster nach Hause komme, danke ich, dass ich diese Arbeit noch machen kann. Ich bete mit jedem Atemzug."

Stark bleiben

16 Februar 2011
Ein gestandener Familienvater und pensionierter Berufsmann, der kaum einmal krank war und nie geweint hatte, ging wegen Depressionen freiwillig in die Klinik.
Während wir durch das Klinikareal spazierten, sagte er: "Ich wünschte mir, ich könnte weinen." Dann blieb er stehen: "Schliessen Sie mich ein in Ihr Gebet."

Mystik auf der Bank

4 Februar 2011
Als ich Geld für einen Klienten abheben wollte, bat mich die Frau am Bankschalter um einen Ausweis, obwohl ich Sie kenne, wie sie freundlich sagte. Sie tippte die Nummer meiner Identitätskarte ein, wartete, probierte nochmals, schaute Stirne runzelnd in den Bidlschirm und meinte dann leicht ärgerlich: "Das gibt's ja nicht. Der Computer sagt, er kenne Sie, und lässt mich nicht ins Konto. So wie ich in ihn hineinschaue, so schaut er zurück."

Ein mystisches Gruseln erfasste mich: Was wissen wir schon, was der Computer weiss? Die Frau am Schalter fand dann übrigens einen anderen Weg, um ins Konto zu gelangen.

Namenswechsel

28 Januar 2011
Der Mann, ursprünglich aus China, wollte nach der Auswanderung nach Thailand in die Militärschule. Er trug einen kurzen, aber den politischen Umständen unpassenden Nachnamen und liess ihn deshalb ändern. Leider nahm man ihn nach zwei Versuchen nicht auf. Geblieben ist ihm ein langer, für uns schwer aussprechbarer Nachname.

Ungeklärte Wandlung

21 Januar 2011
Niemand wusste, was geschehen war. Die alte Frau wirkte plötzlich offen, interessiert und versöhnt, nachdem sie jahrelang gegen fast alle in ihrer Umgebung verbittert gekämpft hatte. Weder der Sohn, noch der Psychologe oder ich verstanden, was geschehen war. Uns blieben einzig einige vage Hypothesen.

Kündigung der Armut

13 Januar 2011
Eine Frau aus Italien, die in einigen Jahren in Rente gehen wird: "Mein ganzes bisheriges Leben war ich arm. Ich bin es leid, immer nur sparen zu müssen, das Günstigste kaufen und keine Ferien haben zu können. Die ständige Armut hat mich erschöpft. Ich will nicht mehr arm sein."

Strohhalm

18 November 2010
Einem 77-Jährigen wurde die Wohnung gekündigt. Er ist seitdem ohne Bleibe. Ich gebe ihm die Adresse eines Restaurants, das Zimmer vermietet.
"Danke für den Strohhalm", sagt er.
"Wir haben die Adresse letzte Woche von jemand anderem erhalten. Ich gebe den Strohhalm weiter."
"Wir sind uns alle Strohhalme", erwidert er und lächelt geheimnisvoll.

Keine Rückkehr

5 November 2010
"Vor dem Bürgerkrieg in Sri Lanka war das Dorf wie eine grosse Familie. In der Schweiz fühle ich mich einsam. Zurück kann ich nicht mehr, da nach 10 Jahren Fernbleiben die Staatsbürgerschaft erlischt. Ich bin in meiner Heimat nicht mehr willkommen."

Alles geht auf

27 Oktober 2010
Ich frage die alte Frau, die im Rollstuhl vor einem Birchermüesli sitzt und nur noch mit einem Auge sieht, wie es ihr gehe. "Es geht mir gut. Alles geht auf."

Positiv

12 Oktober 2010
Eine junge Frau machte bisher viele negative Erfahrungen mit Ämtern. Nachdem sie auf dem Sozialamt gewesen ist, meinte sie: "Es ist schön zu erfahren, dass mir auf einem Amt auf freundliche Art und Weise geholfen wird. Bisher kriegte ich stets eins aufs Dach."

Fliessband

01 Oktober 2010
"Ich verdiene meinen kleinen Lohn in einem Betrieb, in dem Fleischwaren verarbeitet werden. Um mich herum sind nur Frauen. Es ist sehr kalt und anstrengend. Am Abend ist mein Kopf leer."

Diese Zeilen stammen von einem Mann aus dem Nahen Osten, der ein Studium abgeschlossen hat, das in der Schweiz noch nicht anerkannt wird.

Der Schlag auf den Nacken

19 Januar 2016
„Kennen Sie das Sprichwort: Ein Schlag auf den Nacken regt das Denken an?“, fragt der Mann.
„Nein“, sage ich, „noch nie gehört.“
„Dann habe ich das wohl im Heim gelernt.“

Winterhart

22 September 2010
Der Mann ist seit Jahren unterwegs. Die Nächte verbringt er in seinem alten Militärschlafsack, irgendwo draussen, unbemerkt und allein. Ich spreche ihn auf den Oktober an, auf die kalten Nächte und einen möglichen Wintereinbruch. Er blickt mich mit seinen klaren Augen an und meint: "Ein Eskimo kennt keine Kälte!"

Dankbarkeit

8 September 2010
Aus einem Brief an den Sozialdienst: "Als ich draussen war, sind mir die Tränen einfach runter gerollt, denn ich habe schon lange nicht mehr so viel Wärme gespürt."

Souvenir

16 August 2010
Die blinde 90-jährige Frau beeindruckt mich mit ihrer Ausstrahlung. Ein zufriedenes Lächeln umspielt ihre Mundwinkel, während sie von längst vergangenen Griechenlandferien erzählt: “Viele Nächte nacheinander träume ich von der Ägäis. Das macht mich glücklich.“

Seitenwechsel

28 Juli 2010
Die Frau mittleren Alters senkt den Kopf, schweigt eine Weile und sagt dann: "Wenn Sie für einen Tag in meine Haut schlüpfen könnten, hätten Sie sie die Schnauze voll für ein paar Jahre."

Zeit

12 Juli 2010
"Normalerweise gehe ich um 9 Uhr spazieren", erzählt die alte Frau und schaut auf die Uhr. "Ach, schon zwanzig nach neun. Was soll's. Ich gehe nicht mehr nach der Zeit, die Zeit geht nach mir."

Gedankensplitter

30 Juni 2010
Allerschwerst verletzt wird seit längstem die menschliche Genialität und Unschuld im Namen des Gesetzes aufgrund jahrtausendalter Inszenation und Darstellung nicht geliebter Empfindung, und sie alle sind nicht nur desensibilisiert, sie alle sind vollkommen gefühlslos.

Dieser Auszug stammt von einem längeren Text, der im Briefkasten vom Sozialdienst gelandet ist.

Surprise

28 Juni 2010
Ich habe sie immer wieder bewundert, die Verkäuferinnen und Verkäufer des Arbeitslosenmagazins Surprise, für die Beharrlichkeit und Geduld, mit der sie ein Thema unter Menschen bringen, die am liebsten mit zugehaltenen Ohren und geschlossenen Augen vorbeigehen möchten. Manchmal taten sie mir auch leid, wegen der geringen Aufmerksamkeit, die sie erhielten. Aber eine Verkäuferin erzählt: „Die älteren Menschen sprechen gerne mit mir, weil sie sich zu Hause einsam fühlen.“

Nicht jeder Tag ist ein guter Tag

28 April 2010
Nicht jeder Tag ist ein guter Tag
Nicht jedes Jahr ist ein gutes Jahr
Nicht jede Zeit ist eine gute Zeit
Doch wär sie gut wärst du bereit?
Was ist denn heute für ein Tag?
Was ist denn heute für ein Jahr?
Was ist denn jetzt für eine Zeit?
Ach du mein Schreck
Es ist soweit!!!

Regula Koller

Tauschgeschäft

15 April 2010
Eine alte Frau erzählt mir, sie habe mit ihrer Nachbarin eine Vereinbarung getroffen: Sie gehe jeden Abend zu ihr und lese ihr die Todesanzeigen vor, dafür dürfe sie nachher die Tagesschau schauen. Das sei doch toll. So könne sie es sich in ihrem Alter ersparen, einen Fernseher zu kaufen.

Der Schwester so nah

11 März 2010
Die alte Frau träumt immer wieder von ihrer seit einem Jahr verstorbenen Schwester. In einer ersten Traumserie begegnet sie ihrer Schwester auf dem Marktplatz in St. Gallen mit der gemeinsamen Katze an der Leine, die kürzlich verstorben war; beide verschwanden, sobald sie mit ihnen sprechen wollte. In einer zweiten Serie wurde sie von ihrer Schwester aufgefordert, endlich ihre Sachen zu packen, sie flögen nach Amerika. „Ich will gar nicht nach Amerika!“, habe sie geantwortet. Seit einigen Wochen nun erwacht sie aus dem Traum, ihre Schwester schlafe neben ihr. „Ich kann heute noch nicht verstehen, dass sie gegangen ist“, sagt sie.

Unerwartet

24 Februar 2010
Der Mann, der aus finanzieller Not zum Sozialdienst gekommen ist, meint nach dem Gespräch freudestrahlend: "Das hätte ich nun wirklich nicht erwartet, dass ich eine Ausstellung von meinen Fotos machen kann."

Am 23.04.2010 findet in der Offenen Kirche in St. Gallen ein Fest statt, an dem verschiedene Künste gezeigt werden.

Wie eine Königin

9 Februar 2010
Es ist alles da, es wird alles gemacht, ich lebe wie die Schwester der Königin von England, nur ist sie weniger frei. Die muss doch machen, was die anderen ihr sagen.

Sätze einer Frau, die seit Jahren in einem Altersheim lebt.

Mutters Trost

12 Januar 2010
Als junges Mädchen hat sie den zweiten Weltkrieg miterlebt. Noch heute erinnert sich die Frau an die Worte ihrer Mutter, wenn sie weinte vor Angst: „Aber Kleines, wir leben ja noch!“

Bleib du nur

16 Dezember 2009
Die alte Frau erzählt, wie ihre Mutter gestorben ist. Sie habe gespürt, dass etwas nicht stimme und ihrem Bruder gesagt, er solle den Geschwistern anrufen.
„Aber hör mal“, habe dieser geantwortet, „es geht ihr doch genau gleich gut wie vor einer Woche.“
„Dann bleibst du bei der Mutter und ich telefoniere den Geschwistern.“
„Nein, nein, bleib du nur.“
Sie sei bei der Mutter geblieben, die ganz fest in den Himmel geschaut habe, danach den Kopf gedreht und ebenso fest auf die Erde. Aus Angst, sie könne auf den Boden fallen, sei sie zu ihr hin gegangen und habe sie in die Arme geschlossen. Da sei sie gestorben. Als der Bruder zurückkam, war sie tot.

Winter

2 Dezember 2009
Würde gerne wieder einmal in den Süden
Grad jetzt ist es Winter geworden
Um dieses Lebendige zu erleben
Dieses Lachen diese Musik, daran teilzunehmen,
zu feiern: dieses Erdenleben.

Schu

Gesucht: Wahrheit, Freiheit und Heimat

11 November 2009
Eine ältere Frau, die von Deutschland über Österreich in die Schweiz gereist ist, sucht im Ausland eine bessere Zukunft für sich und ihren Sohn. Die Wirtschaftskrise und die leeren Versprechungen von Angela Merkel hätten sie dazu getrieben. Ihre Eltern stammen vom Sudetenland, sie selbst ist in Prag geboren. 30 Jahre lang lebte sie in Tschechien, danach ist sie nach Deutschland ausgewandert. Auf die Frage hin, wie wir ihr helfen könnten, antwortete sie: Ich suche Wahrheit, Freiheit und Heimat.

PS: Bis heute gelten die sogenannten Benes-Dekrete, welche die Vertreibung und Enteignung der Sudetendeutschen regeln und Ausschreitungen tschechischer Bürger an Deutschen amnestieren.

Irene Mlakar, Sozialarbeiterin i.A.

Tauschgeschäft

29 Oktober 2009
Die alte Frau erzählt mir, sie habe mit ihrer Nachbarin eine Vereinbarung getroffen: Sie gehe jeden Abend zu ihr und lese ihr die Todesanzeigen vor, dafür dürfe sie nachher die Tagesschau schauen. Das sei doch toll. So könne sie es sich ersparen, in ihrem Alter noch einen Fernseher zu kaufen.

Fragen eines Suchenden

12 Oktober 2009
Denke ich mich selbst oder denkst Du mich? Bin ich Du oder bist Du mich? Träumst Du mich in Deiner Schöpfung? Ist mein geträumtes Dasein Deine Realität – träumst Du meine Wirklichkeit in Deinem Geist? Empfängt meine Sinneswahrnehmung Deinen Traum? Was unterscheidet das Wachsein vom Traum? Wo fange ich an und wo höre ich auf in Dir zu sein? Liebst Du mich als gewollte Kreation in Deiner geistigen Schöpfung?

Privat

3 September 2009
Der Junkie sass mit zerrissenen Kleidern auf einer Holzbank vor der UBS-Bank, einen Schlafsack von der Schweizer Armee neben sich, auf dessen dunkelgrünen Hülle in grossen dunkelroten Lettern Privat stand. Wie hätte er ein für unsere Zeit sinnigeres Bild schaffen können?
Noch im Vorbeigehen fragte ich mich, ob vielleicht in hundert oder zweihundert Jahren unsere Zeit ganz anders bewertet wird? Nicht die Menschen, die grosse Gewinne erzielten, werden im Rampenlicht stehen, sondern jene, die den überhitzten Wirtschaftsmotor mit stillen Protestaktionen zu bremsen versuchten?

Die Weidenbäume

11 August 2009
Der 78-jährige Mann, ehemaliger Stickereizeichner und Kunstmaler, hatte einen Schlaganfall erlitten. Er erzählt: "Wenn Sie zum Alten Rhein gehen und sich hinsetzen vor die Staffelei … wenn Sie dann die Weidenbäume sehen, wie schön sie sind –  Sie möchten sie malen, aber Sie können nicht mehr, der Arm ist lahm … und dieser Arm kommt nicht mehr. Ach, wir Menschen gehen hin und her und schauen nicht nach innen; dort geht immer wieder ein Fenster auf."

Nichts Schöneres

8 Juli 2009
„Es gibt nichts Schöneres, als den inneren Frieden“, sagt die alte Frau.
„Und wie kommt man zu diesem inneren Frieden“, frage ich sie, „ich meine, was muss man tun, um den inneren Frieden zu erlangen?“
Sie zögert und antwortet dann mit grösster Selbstverständlichkeit: „Er kommt von alleine.“

Der Grund des Vergessens

18 Juni 2009
Seit Jahren besuchte ich eine alte Frau: erst zuhause, dann in einem Pflegeheim, das als Übergangslösung diente, weil es sehr schnell gehen musste, und schliesslich in ihrem Wunschheim, von dem aus sie über das Kloster schauen konnte. Ob bei der Begrüssung oder beim Abschied, jedes Mal vergass sie meinen Namen, obwohl sie in mancherlei anderen Belangen nicht vergesslich war.
Gestern aber, nachdem wir geklärt hatten, was mit dem Haus ihrer Eltern geschehen ist (die vor über dreissig Jahren gestorben waren), wohin die Möbel ihrer Wohnung gekommen sind (die vor drei Jahren aufgelöst wurde), offenbarte sie mir zum Abschied: „Wissen Sie, weshalb ich ihren Namen immer wieder vergesse? Ich möchte Ihnen Herr Ohnsorg sagen – und dann merke ich, dass Sie ja gar nicht so heissen."

Der Lauf der Zeit

26 Mai 2009
Die Alte sitzt in einem wegen möglicher Inkontinenz mit einem Überzug bedeckten Fauteuil und schaut, die Augen hinter dicken Brillengläsern verborgen, vor sich hin:
„Ich kann den Lauf der Zeit nicht bremsen.“
„Gibt es Augenblicke, da Sie den Lauf der Zeit gerne bremsen möchten?“, fragte ich sie.
„Ja, gestern zum Beispiel. Man brachte mich im Rollstuhl auf die Terrasse, ich spürte die Sonne auf den Schultern. Dort, wo ich schwer getragen habe, wurde ich von wärmenden Sonnenstrahlen emporgehoben."

Tausend und einmal

6 Mai 2009
Tausendmal ist im Leben
der Gedanke an's Glück vergeben
aber einmal, so ist es eben
ist er nicht vergeben

Darum denke ich gerne
tausendmal daneben
um das tausend und
erste Mal zu erleben

Regula Koller

Kennst du das Schattenreich

15 April 2009
Kennst du das Schattenreich
in deinem Herzen,
worin sich verzweifelt
deine Sehnsucht nach
Menschlichkeit verzehrt?
Kennst du den ungestillten
Hunger nach einem warmen Wort,
der zeitlos deine Einsamkeit umkreist?
Kraftlos suchst du nach dem hellen Licht,
das alles Trübe aus der Dunkelheit verweist.
Kennst du die Falltür in die Verlorenheit,
worin man eingesperrt um Hilfe schreit?
Kennst du den Ort in dir, den niemand hört,
nur ein leerer Hohlraum weit und breit,
der dich mit tiefer Angst zerstört?
Kennst du das Schattenreich
in deinem Herzen, worin sich verzweifelt
deine Sehnsucht nach Menschlichkeit verzehrt?
Kennst du die grosse Angst, kurz vor deinem Tod?
Kennst du den Ort in dir, den niemand hört,
nur ein leerer Hohlraum weit und breit,
der dich mit tiefer Angst zerstört?
Wann kommt die Freiheit, um mich zu erlösen?
Wann dreht sich der Schlüssel, der mich nach draussen führt?
Wenn nicht du, wer ist es dann,
der mich hier drin noch hört?

Samuel Greter

Einen Wurm in Untermiete

2 April 2009
In der psychiatrischen Klinik auf Arztvisite sei sie jeweils von Ärzten, Assistenten und Betreuern umgeben gewesen, eine unangenehme Situation. Einmal habe sie zu ihnen gesagt: „Ein Apfel, der etwas auf sich hält, hat einen Wurm in Untermiete“, aber sie wisse nicht, ob sie verstanden worden sei.

Mein Herz essen meine Kinder

16 Februar 2009
Herr und Frau M. stammen aus Bosnien und leben mit ihren drei Kindern seit 11 Jahren in der Schweiz. Frau M. kommt regelmäßig zu Beratungsgesprächen, sie hält die Fäden in der Familie zusammen.  Herr M. ist sehbehindert und deshalb seit zweieinhalb Jahren erwerbslos. Die Familie wird vom Sozialamt unterstützt und lebt somit am Existenzminimum.  Frau M.  arbeitet stundenweise als Raumpflegerin und verdient monatlich Fr. 260.-.
Wie Frau M. heute zum Sozialdienst kommt, ist sie sehr verzweifelt. Sie sagt, sie habe heute, als sie wegging, die Küchentüre geschlossen, damit die Kinder nicht den Kühlschrank leer essen. Schlimm sei für sie im Moment auch der Verlust der Lehrstelle ihrer 17-jährigen Tochter: „Wie weiter mit Tochter?  Mann immer zu Hause. Nicht gut.  Viel Probleme ich. Viel nervös ich. Ich immer denken, warum heiraten und Kinder? Mein Herz essen meine Kinder. “

Brigitta Holenstein, Kath. Sozialdienst Ost

Im Zweifel für die Klientin

3 Februar 2009
Eine junge Klientin hat bei einer Stiftung im Dezember 08 selbständig ein Gesuch um finanzielle Hilfe eingereicht, da sie die Möglichkeiten des Sozialdienstes für das Jahr 2008 ausgeschöpft hatte. Nun hat sie den Sozialdienst beim Gesuch als Referenz angegeben, ohne vorherige Rückfrage. Im Januar 09 dann ein Mail der Klientin: "...ich hoffe, es ergehe ihnen gut … die Sonne lacht am Himmel …falls der Sachbearbeiter der Stiftung bei ihnen anruft bestätigen sie bitte, dass ich keine reiche Frau bin. Das wäre lieb. Liebe Grüsse …" Bei soviel Kreativität Quellen zu erschliessen, fällt es mir nicht schwer, weiterführende Auskunft zu geben. Im Zweifel für die Klientin. Ueberlebenskunst!

Gertrud Hermann, kath. Sozialdienst West

Noch viel Zeit zu leben

19 Januar 2009
Der soeben pensionierte Mann erzählt einen Traum, den er nach der Herzoperation im Spital gehabt hat und den er nie mehr vergessen wird:
Ich spaziere mit Freunden durch eine Landschaft, die mir irgendwie vertraut ist, ich aber noch nie gesehen habe. Wir kommen an einem Haus vorbei, aus dem eine Frau tritt, die mich an meine Mutter erinnert. "Ich habe Angst vor dem Sterben", sage ich zu ihr. "Du musst keine Angst haben", antwortet sie, "du hast noch viel Zeit zu leben."

Hör auf zu heulen

28 Dezember 2008
Nie hat meine Mutter gesagt, ich habe dich gern, nie. Dich hat ein Hund beim Scheissen verloren, das hat sie zu mir gesagt. Und Vater schon gar nicht. Wir Kinder hatten uns einmal im Wald geprügelt und ich bin heulend nach Hause gekommen. Hör auf zu heulen, hat er gesagt, sonst versohle ich dir den Hintern, damit du weisst, warum du heulst.
Mein Mann? Ob der gesagt hat, ich habe dich gerne? Ständig an mir rumgenörgelt hat er. Ich habe ihn doch nur geheiratet, damit ich wegkomme von zuhause. Irgendwann ist er dann abgehauen mit einer jüngeren. Aber wissen Sie, was mir geblieben ist? Mein dreckiges Lachen.

Ich will nicht nach Amerika (2)

23 Dezember 2008
Die alte Frau, die ihre Schwester vor fast einem Jahr verloren hat, schaut nachts oft zu ihrem Bett hinüber und glaubt, dass sie jeden Augenblick etwas sagen werde.
„Dafür träume ich von ihr“, erzählt sie. „Wir sind in unserer Wohnung und ich packe den Koffer. ‚Jetzt mach ein bisschen vorwärts‘, fährt sie mich an. Ich setze mich auf den Couch, verschränke die Arme und antworte: ‚Ich will gar nicht nach Amerika.‘ Da verschwindet sie ohne ein Wort zu sagen. Ja, in der letzten Zeit sagt sie auch in den Träumen kein Wort mehr zu mir.“

Drei Vaterunser

15 Dezember 2008
Der 73-jährige Mann muss morgen zu einer Rückenoperation ins Spital.
„Zum x-ten Mal gehe ich ins Spital“, erzählt er, „die Schwestern kennen mich, die Ärzte auch und die Anästhesistin wird wie immer abklären, wie viel mein Herz erträgt. Vom Altersheim werde ich die 90-jährige Frau vermissen, der ich jeden Morgen das Honigbrot steiche. Sie betet vor jedem Spitaleintritt drei Vaterunser für mich.“

Ein grosses Halleluja

8 Dezember 2008
Nach der Vernissage des Buches ‚Geschichten aus dem Stadtzentrum‘, in dem auch ihre Geschichte festgehalten ist, bedankt sich die alte Frau: „Der Abend war so reich, wissen Sie, so reich. Ich bin jetzt 84 Jahre alt und da denkt man manchmal ans Sterben. Und wenn ich sterbe, werde ich alle Stimmen mitnehmen, alle Stimmen, die ich auf Erden gehört habe, und alle Musik und ein grosses Halleluja.“

Widerhaken des Unglücks

2 Dezember 2008
Manchmal ist es mir unerklärlich, weshalb gerade Klienten, die sonst schon gesundheitlich und psychisch belastet und finanziell nicht auf Rosen gebettet sind, zusätzliches Unglück widerfährt. Eine Frau erzählte mir: „In meiner Verwandtschaft ist ein 17-jähriges Mädchen gestorben. Man fand sie tot in der Badewanne. Die Ärzte haben keine Todesursache gefunden. Stellen Sie sich vor, ein 17-jähriges Mädchen! Ich kann es nicht fassen. Ich fuhr zur Beerdigung, mir wurde schlecht. Vor der Kirche fiel ich ohnmächtig um. Ein Krankenauto brachte mich in die Notfallstation. Ich wurde sofort operiert wegen eines Geschwürs im Zwölffingerdarm. Zehn Tage musste ich auf der Notfallstation bleiben. Jetzt komme ich langsam wieder zu Kräften.“

Heimat

13 November 2008
Als ich die alte Frau zuhause besuchte, sprachen wir über die Veränderungen in der Pfarrei. Als sie erfuhr, dass auch der Pfarrer gehen werde, sagte sie:
„Aber wenn der Pfarrer geht, wer würdigt dann noch meine Arbeit, die ich dreissig Jahre lang gemacht habe? Wer weiss dann noch von den alten Menschen, die ich über Jahre besucht habe, und die inzwischen schon lange gestorben sind?“

Dann bin ich gesund

8 Oktober 2008
Zwischen blaugrau ineinandergeschobenen Wolken vereinzelte Strahlen, die in Lichtschleiern auf die Erde fallen. Die Frau, die mein Büro verlässt, hat HIV und einen 9-jährigen Knaben, den sie alle drei Wochen sieht.
„Wenn er bei mir ist“, sagt sie, „bin ich gesund. Das Fieber kommt erst, wenn er gegangen ist.“

Mit der Katze an der Leine

23 September 2008
Die alte Frau, die vor einigen Monaten ihre Schwester und kurz darauf ihre Katze verloren hat, erzählt: „Ich vermisse sie schon, die beiden. Nachts träume ich von ihnen. Meine Schwester zieht der Katze eine Halterung an, damit sie sie an der Leine spazieren führen kann – wissen Sie, die Katze hatte nie eine solche Halterung gehabt. Ich sehe sie auf dem Marktplatz spazieren und rufe: Kommt mal her! Doch dann verschwinden sie … Gestern habe ich geträumt, ich wolle nach Amerika fliegen – was man für Dinge träumt, ich bin nämlich noch nie in Amerika gewesen, ich kenne ja niemanden dort. Auf dem Flughafen aber stürze ich. Ich sehe meine Schwester mit der Katze an der Leine. Helft mir, rufe ich, wir können dann gemeinsam spazieren gehen! Aber wieder verschwinden sie …“
Die alte Frau lacht, als würden die beiden ein ulkiges Spässchen mit ihr treiben. „Was man doch für Dinge träumt. Normalerweise kann ich mich an sie nicht erinnern.“

Sei still, mein Herz, und singe

3 September 2008
Für meinen Bruder, für den ich im Pfarrhaus gekocht und gewaschen habe, hat sich ein Traum erfüllt: er konnte in die Mission nach Afrika gehen. Meine Verwandten haben mich – ich war damals 64 Jahre alt – bei einem Altersheim angemeldet. Ganz nach dem Motto: Sei still, mein Herz, und singe.
Neben mir im Altersheim wohnte jemand, der jemand kannte, der um eine freie Wohnung wusste. Die nahm ich dann. Eine kleine Zweizimmerwohnung ganz für mich allein.

Gibt es einen Morgenstern

18 August 2008
Unser Wahrnehmung folgt unserer Vorstellung“, sagte ein junger Klient, nachdem wir uns den finanziellen Problem gewidmet und uns nun philosophischen Fragen zuwenden konnten. „Wir Menschen wissen gar nicht, wie sehr wir uns von unseren Vorstellungen beschränken lassen. Schauen Sie mal“, führte er aus, nahm ein Blatt Papier und schrieb drei Worte untereinander.
Morgenstern
Abendstern
Bergelstern
„Gibt es das?“, fragte er mich und deutete mit dem Kugelschreiber auf Morgenstern.
„Ja“, sagte ich zögerlich. Ich ahnte eine Falle.
„Und das?“. Er deutete auf Abendstern.
„Ja.“
„Und das?“
„Vielleicht gibt es das“, sagte ich und glaubte, der Falle ausgewichen zu sein, „aber ich kenne es nicht.“
Er zog einen Trennungsstrich nach Berg und erst da erkannte ich das Wort: Berg-Elstern. Da musste ich lachen. Ein Beispiel dafür, wie uns unsere Vorstellungen in die Irre führen?

Ein letztes Bild von ihm

6 August 2008
Weihrauchschwaden schweben über den dunklen Anzug des Friedhofgärtners. Er kniet nieder vor kupferfarbener Urne, zieht einen Stöpsel heraus, stösst ihn wieder zurück und hebt die Urne mit feierlicher Geste langsam empor. Wie Gewölk steigt feine Asche aus dem dunklen Erdenloch. Ein letztes Bild von ihm.
Am Wiesenrand des Gemeinschaftsgrabs erzählt seine Schwester, sie hätten ein schwieriges Verhältnis gehabt, aber während der letzten vierzehn Tage habe sie ihn immer wieder besucht und da habe er zu ihr gesagt: Du bist anders geworden. Früher warst du ein verdammter Egoist. Dabei habe sie das Gefühl gehabt, er sei anders geworden.
Im kahlen Geäst des Baumes hinter seinem Grab hat sich der Nebel zu Reihen glitzernder Tropfen versammelt. Wann fällt der nächste?
Ich gehe allein im Wald spazieren. Durch weissen, lichtdurchfluteten Nebel schimmert blauer Himmel. Dunkel sind die Silhouetten der Blätter, die hangen geblieben sind, und der Äste, die über mich hinweg schweben. Als ginge ich in Trance, als lösten sich Äste heraus, flechteten sich wieder ein, überdeckten sich, liessen andere hervortreten. Als stünde ich still und eine mich durchströmende Energie stiesse der Welten Gang an.
Er auf dem einen Pol, ich auf dem andern.

Anders als ich will

31 Juli 2008
Die alte Frau liegt auf dem Bett, wächsernes Gesicht, die weissen Haare übers Kissen ausgebreitet. Wegen einer Niereninsuffienz weiss niemand, wie lange sie noch leben wird. Sie ballt ihre Fäuste, schiebt den Unterkiefer vor, schürzt die Lippen, sodass ihre krummen Zahnstummel sichtbar werden, und schreit:
Gopfverttori, äs söt eifach andersch laufä
Gopfverttori, äs lauft nöd wiän i will
Gopfverttori, äs lauft nöd wiä mär meint
Gopfverttori, hälfed mir
Ich erhebe mich vom Stuhl, damit sie mich besser sehen kann, und frage sie, wie ich ihr helfen könne. Ihre Stimme wird plötzlich ganz sanft: Beten Sie für mich.

Zwanzig Franken

31 Juli 2008
Kürzlich war ein Klient, dessen Grossmutter gestorben war, bei meiner Arbeitskollegin in Beratung. Sie habe ihm sehr viel bedeutet, beteuerte er, er sei mehr bei ihr aufgewachsen als bei seinen Eltern. Morgen sei die Beerdigung, die Zugfahrt koste zwanzig Franken. Abklärungen ergeben, dass in der entsprechenden Gemeinde gar keine Beerdigung stattfindet.
„Langsam müssen wir den Friedhof erweitern für all die Menschen, die unsere Klienten sterben lassen“, meint meine Arbeitskollegin und wir müssen lachen .
Gleichzeitig sind wir uns bewusst, welche Tragik dahinter steckt.
Kürzlich hat eine Klientin einen anderen Arbeitskollegen erwischt. Ihre Tochter sei gestorben. Die schauspielerische Einlage war so perfekt, dass er sich erweichen liess. Die gute Nachricht aber ist, dass sich ihre Tochter in bester Gesundheit befindet.

Zwischen zwei Welten

4 Juni 2008
Meine Mutter hatte beschlossen, in Sizilien zu bleiben, weil die Lebenskosten viel günstiger waren, aber kaum hatte ich mit der Kellnerlehre begonnen, entschied sie sich anders: Wir kehrten in die Schweiz zurück. Ich schloss die Lehre ab und rückte in die Rekrutenschule ein.
Nur wenige Monate später erhielt ich einen Marschbefehl aus Italien: Als italienisch-schweizerischer Doppelbürger sei ich verpflichtet, auch in Italien Militärdienst zu leisten. Ich rückte für zwölf Monate ein, bekam eine andere Uniform, ein anderes Gewehr (es war ein bisschen kürzer), aber dasselbe Gebrüll auf dem Kasernenplatz. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich Träger zweier Uniformen war und je nachdem, wie es das Weltgeschehen wollte oder die hohen Militärs planten,  mich selbst hätte bekriegen müssen.

Immer zwei Tage voraus

20 Mai 2008
Die 69-jährige Frau sagt, sie sei immer zwei Tage voraus. Sie wisse auch nicht warum.
„Was haben wir heute für einen Tag? Ach ja, Mittwoch. Sehen Sie, und ich habe wieder geglaubt, es sei Freitag. Immer genau zwei Tage voraus.“

Die eigenen Gebete

13 Mai 2008
Der Mann mittleren Alters erzählt mir: „Eine Zeitlang konnte ich nicht mehr in die Kirche gehen; ich wusste nicht mehr, werde ich gestossen oder bin ich frei?“
Er schweigt lange, so lange, dass ich mich nicht mehr länger zurücknehmen kann.
„Und jetzt?“, frage ich.
„Jetzt gehe ich manchmal alleine in die Kirche und bete meine eigenen Gebete. Vielleicht werde ich mich später wieder der Gemeinschaft anschliessen.“

Damit ich nichts vergesse

30 April 2008
Die 69jährige Frau hat vor zwei Jahren überraschend ihren Ehemann verloren. Seither ist sie manchmal desorientiert, vor allem zeitlich. Im Gespräch sagt sie plötzlich:
„Sie müssen millionenmal entschuldigen, dass ich immer dreinrede. In meinem Kopf sind viele Gedanken, deshalb muss ich ganz schnell sprechen, damit ich nichts vergesse.“
Und nachdem ich ihr lange zugehört hatte, meinte sie: 
“Wie lange sind Sie schon an diesem goldigen, wichtigen, vielseitigen Sozialposten?  Das ist gut, dass Sie das machen, das passt zu Ihnen.“

Traumberuf: Kassiererin

16 April 2008
Als Sozialarbeiter nehme ich strukturelle Veränderungen in Unternehmen nur am Rand wahr. Allenfalls lese ich in Zeitungen darüber. Betroffen bin ich erst, als mir eine Klientin eine Lohnabrechnung vorlegt. Sie verdient beim Austragen von Zeitungen 2‘100.—Franken. Nächsten Monat aber nur noch 1‘200.—.
„Warum?“
„Weil mir eine Tour gestrichen wurde.“
Hat sie schlampig gearbeitet?
„Weshalb ist Ihnen eine Tour gestrichen worden?“
„Wir haben Weisung erhalten, unsere Touren erst ab 5 Uhr morgens zu beginnen, weil sie uns ab 4 Uhr Nachtzulage bezahlen müssten. Ab 5 Uhr aber schaffe ich keine zwei Touren.“
Eine Weile bleibe ich still, muss erst mein Vorurteil runterschlucken und mich innerlich bei ihr entschuldigen.
„Wissen Sie, als was ich gerne arbeiten würde? Als Kassiererin. Ich habe gestern beim RAV angefragt, ob ich einen Kurs besuchen kann. Ich habe ja keine Ahnung, wie man eintippen muss.“

Worte einer Frau im Pflegeheim

2 April 2008
Es geht so manches anders als man will.
Gut, dass man es nicht im Voraus weiss –
Nur die Zeit, die Zeit, sie will nicht vergehen

Noch genügend Geld

1 April 2008
Eine alte Frau, für die ich die Finanzverwaltung führe, ruft mich an. Sie wirkt beunruhigt als hätte sie ein Gedanke die ganze Nacht lang geplagt.

„Habe ich noch genügend Geld für meine Beerdigung? – Ja!? – Dann sind ja alle meine irdischen Probleme gelöst.“

Wer das Nest verlässt

26 Februar 2008
„Irgendwann“, erzählt die Frau aus einem Mittelmeerstaat, „müssen doch die Kinder für sich selbst Verantwortung übernehmen … Ich habe von meinen Eltern auch nicht alles bekommen, was ich gebraucht hätte … Trotzdem bin ich in die Schweiz gegangen und habe mich durchgeschlagen.“
Sie hebt mit der rechten Hand die Brille an und wischt sich mit der linken die Tränen aus dem Gesicht. Plötzlich, als hätte sich der Wolkenschatten über ihr verzogen, strahlt sie:
„Wenn Vater in den Stall ging, von der Haustüre vielleicht zwanzig oder dreissig Meter entfernt, liefen ihm alle Tiere nach.“

Verrückt oder mystisch

12 Februar 2008
Ein Mann bringt mich mit folgender Aussage zum Nachdenken:

„Ich gehe aus von vollkommen sicheren Leben, das in vollkommen sicheren Tod mündet. Da es aber Tod nur im Leben gibt, weiss ich bestimmt, dass an der Mündung des Todes Leben sein wird.“

Flieht weit weg

29 Januar 2008
Die alte Frau wohnt seit drei Monaten im Altersheim, aber sie hat sich noch nicht eingelebt.
„Ich fühle mich herausgerissen aus meinem Leben … Die Welt da draussen flieht weit weg.“
Wir schweigen.
Das Fenster geht auf die Dächer von St. Gallen.
„Die Welt da draussen flieht weit weg“, hallt es in mir.
Und kann ihr im Moment nicht mehr sein als mitfühlendes Echo.

NEE

10 Januar 2008
Ein 17-jähriger Jugendlicher gammelt auf den Strassen herum. Er habe viel Scheiss gemacht, geraucht und getrunken. Ein Heimleiter kümmert  sich um ihn, bietet ihm eine Beschäftigung im Aktivierungsprogramm und in der Heimküche an. Wenn es für den jungen Mann nichts zu tun gab, unterhielt er sich mit den Heimbewohnern. Sie fanden es spannend, mit einem jungen Mann zu reden, er konnte seine Deutschkenntnisse aufbessern. Eine Win-win-Situation, könnte man denken.

Nee

Damit ist nicht das Plattdeutsche Nein gemeint, sondern die Abkürzung für Nichteintretensentscheid.
Der Jugendliche durfte nicht mehr im Heim erscheinen, der Heimleiter wurde ins Polizeirevier vorgeladen. Ihm droht eine Busse von bis zu 5‘000.- Franken. Der stellvertretende Leiter des Amtes meint: „Wir dürfen kein Auge zudrücken, sonst sabotieren wir unsere eigenen Gesetze.“ Dabei hatte uns Jesus von Nazareth etwas anderes vorgelebt. Er hatte die Menschlichkeit immer über die Gesetze gestellt.

Wie das Ticken der Wanduhr

3 Januar 2008
„Es geht mir schlecht“, sagte die alte Frau, „hier drinnen gibt’s nicht mehr vor und nach.“
Sie legte ihre Faust aufs Herz.
Auf dem Weg zurück ins Büro musste ich lange über diesen Satz nachdenken.  Im Innern vor- und nachgeben.
In der geistigen Haltung das tun, was das Herz auf organischer Ebene tut: vorgeben und nachgeben. Wo finde ich da Sicherheit, wo bleiben da die Grenzen, die klaren Richtlinien?
Nur der Herzschlag, jetzt und jetzt und jetzt.

So schön!

18 Dezember 2007
Der Mann hatte als Kind epileptische Anfälle und galt als geistig behindert. Er hatte sich als Hilfsgärtner, Hilfskoch und Gehilfe eines Hauswarts durchs Leben geschlängelt. Trotzdem hat er sich in seiner Wahrnehmung eine beneidenswerte Frische bewahrt. Er erzählt mir:

"Kürzlich kam wegen der Krankenversicherung eine Frau in meine Wohnung. Wissen Sie, die war so schön, ich wäre am liebsten aus dem Fenster gesprungen!"

Beide mussten wir lachen über die  tragikomische Szenerie. Schliesslich wohnte er im vierten Stock.

Die Lohnspirale dreht sich

29 November 2007
Gemeint sind die Managerlöhne, die steil nach oben klettern.  Jedoch sind die Firmen nicht bereit, Transparenz zu schaffen.  Für 2006 hat gerade jede vierte der  100 von Ethos untersuchten Firmen die Löhne der Topmanager und Verwaltungsratsmitglieder offen gelegt.
Gemäss Sozialamt der Stadt St. Gallen beläuft sich der Missbrauch der Sozialhilfegelder auf ca. 2 Prozent. Diese werden richtigerweise - soweit als möglich - geahndet und sanktioniert. Nur, Hand aufs Herz: Weshalb werden in den Medien die paar tausend Franken der Sozialhilfebezüger viel öfter ausgebreitet, als die Millionen (oder sind es mehr?), die Topverdiener am öffentlichen Interesse vorbeimogeln?

Von lauter Fremden umgeben

22 November 2007
Nachdem mein Mann gestorben ist, war ich plötzlich wie von lauter Fremden umgeben. Ich bin fast durchgedreht.
Alle meine Erinnerungen liegen hinter einer schweren Türe, die sich für immer verschlossen hat.

Im Kokon

6 November 2007
Plötzlich stehst du in einer leeren Wohnung, die Schritte widerhallen hohl von den Wänden. Hier drinnen haben sie gelebt, die zwei alten Frauen, über vierzig Jahre lang. Die eine hatte ihren Vater bis zu seinem Tod gepflegt. – Jetzt reissen zwei Handwerker im Zimmer nebenan den Boden heraus. Sie hören Radio aktuell.
Du bleibst stehen, nimmst einige Atemzüge lang die zwei sich überlagernden Welten wahr, von denen die eine bald verschwunden sein wird. Und für einen kurzen Augenblick scheint das Licht, das durch das Fenster fällt, wie durch einen Kokon gefiltert, an dem die zwei alten Frauen vierzig Jahre lang gesponnen haben.

Das Immergleiche

5 November 2007
"Wie geht es Ihnen?"
frage ich die alte Frau, die frisch gekämmt im Bett liegt.
"Schlecht ... - ich verzweifle noch!"
"Was bringt Sie zur Verzweiflung?"
"Das Immergleiche - beten Sie für mich, dass es besser wird oder dass es endlich zu Ende geht."

Arbeiten und Beten

19 Oktober 2007
„Im Kloster mussten wir arbeiten, oft auch Männerarbeit auf dem Feld. Und nachts beten. Nach drei Wochen fragte mich eine Schwester, weshalb ich so bleich aussehe. Danach wurde ich krank. Nach fünf Wochen schickte mich die Oberin nach Hause.
Mutter holte mich nicht vom Bahnhof ab. Sie schickte mich zum Pfarrer, damit ich mich vor ihm schäme. Der Vater aber sagte: Bin ich froh, dass du wieder da bist.
Wenn ich heute in ein Kloster müsste, ich würde den Schwestern die Heugabel anwerfen.“

Wie wirst du sein

11 Oktober 2007
Sie habe ihre Schwester im Altersheim besucht. Sie sei gerade aus einem fremden Zimmer gekommen.
„Was machst du denn da?“
„Ach wissen Sie ...“ „
Aber Berta, ich bin doch deine Schwester!“
Früher sei sie so intelligent gewesen, aber jetzt? Wenn sie Blumen erhalten habe, wisse sie nicht mehr, von wem sie sind. Sie schweigt eine Weile und sagt dann:
„Wie du bist, weißt du, aber wie du wirst, weißt du nicht.“

Ein Alptraum

03 Oktober 2007
Der Mann, der bei einer Vergewaltigung gezeugt worden war, hat seit fünfjährig immer wieder denselben Traum: Ich träume, dass ich wach bin, merke aber plötzlich, dass ich mich nicht bewegen kann. Ich möchte schreien, aber ich kann nicht schreien.

Das gab es bei uns nicht

24 September 2007
Die 84-jährige Frau erzählt, sie und ihre zwei Brüder seien sehr streng erzogen worden. Dass sie alles so schwer nehme, dafür könne sie nichts, das sei bei ihrer Mutter schon so gewesen: „Getanzt? Getanzt haben wir nie, nein, das gab es bei uns nicht. Tanzen kann ich dann später, im Himmel. Mit wem?! Mit Röbi und Kurt und meinen Eltern.“  

Genug an mir selber

11 September 2007
Die beiden Geschwister sind vor drei Wochen ins Pflegeheim eingetreten. Fragt die eine: „Was machen wir mit unseren Möbeln? Was?! Die kommen ins Brockenhaus?! Können wir denn nichts mehr mitnehmen?“ Sagt die andere: „Was willst du denn? Wenn du stirbst, kannst du auch nichts mehr mitnehmen.“ „Nein, wenn ich sterbe, will ich nichts mehr mitnehmen. Dann habe ich genug an mir selber.“

Lebenskunst

4 September 2007
Kennst du die Lebenskunst?
Nein, davon hab' ich keinen Dunst
Dann studier' darüber nach
und lieg' nicht immer brach
so wirst du dann wach
und sagst erstaunt, ach
das ist was Neues für mich
und könnte haben Gewicht

Anna Schiess

Der rote Apfel

21 August 2007
Er ist auf den Philippinen aufgewachsen, stammt aus einer wohlhabenden Familie, die mit Stoffen gehandelt hat. Die Liebe zu einer Frau hat ihn in die Schweiz geführt. Seit einiger Zeit leidet er an Wahnvorstellungen: er fühlt sich überwacht von Fernseher und Telefon.
Wie er auf dem Beratungstisch eine Schale mit roten Äpfeln entdeckt, erzählt er: „Mit sechs Jahren habe ich zum ersten Mal einen roten Apfel gesehen. Damals wurden wir von den Japanern bombardiert. Die amerikanischen Soldaten brachten uns Nahrungsmittel, und eben auch rote Äpfel. Ich habe einen amerikanischen Soldaten in die Faust gebissen, damit er mir den Apfel überlässt.“
Zum ersten Mal, seit er in die Beratung kommt, lacht er laut.

Mit Vollgas durch die Einbahnstrasse

13 August 2007
Drogen nehmen ist wie mit Vollgas durch eine Einbahnstrasse fahren. Vielleicht knallt’s, vielleicht kommst du durch. Wenn die Droge dann zu wirken beginnt, füllt dich eine Wärme aus, die du sonst nie bekommen hast. Du fühlst dich, als wärest du in Watte gepackt und flögest durchs Weltall. Die andern sind weit weg, sie sind keine Bedrohung mehr.Irgendwann kommt das Erwachen. Alle Verpflichtungen und Erwartungen sind wie Nägel, die dir an Händen und Füssen eingeschlagen werden. Und du denkst nur eines: Möglichst bald wieder einen Trip.

Gebieter des Gebetes

5 Juli 2007
Sie hört Stimmen, Stimmen verstorbener Menschen, die während des irdischen Lebens böse waren. Diese Stimmen befehlen ihr zu beten, manchmal Tag und Nacht, sodass sie weder essen noch schlafen kann. Sie muss ja beten. Ich frage sie, als es ihr deswegen besonders schlecht geht, ob denn jemand anders für sie die Gebetszeiten übernehmen dürfe, wenigstens in der Nacht, damit sie wieder schlafen könne.
„Nein“, sagt sie, „die Stimmen befehlen mir zu beten, das kann niemand für mich tun.“

Ab nach Mombasa

28 Juni 2007
Im November reise sie nach Mombasa, für immer. Ja, ich dürfe den Mund ruhig wieder schliessen. Sie könne dort mit der AHV-Rente gut leben. Sie sei dort drei, viermal in den Ferien gewesen, kenne einige Leute. Die Wohnung zweihundert Meter vom Meer entfernt koste sie fünf mal weniger als in der Schweiz. Und sie brauche wegen des Klimas dort viel weniger Medikamente, höchstens die Hälfte.

In der Schwebe

19 Juni 2007
Jahr für Jahr wartet die Familie P. auf die Aufenthaltsbewilligung, Jahr für Jahr die bange Frage, ob sie als Asylbewerber weiterhin bei uns leben dürfen, Jahr für Jahr sind sind alle Familienmitglieder dieser krankmachenden Spannung ausgesetzt. Die Familie ist integriert, die Kinder gehen schon lange hier in die Schule. Die Mutter hat Angst um sich und die Kinder. Das zerrt an den Nerven.
Ein Kind sagt: „Wenn wir weggeschickt werden, dann gehe ich mit meinen Geschwistern freiwillig in ein Kinderheim. Ich will nicht weggehen, ich bin gerne hier.“

Mein Geld ging wohin

12 Juni 2007
Wo ist denn all das Geld hingekommen? Wir Kinder haben von den Eltern je Fr. 25'000.—erhalten, wo ist das hin? Stimmt ja, ich bin auf Reisen gegangen. Aber was haben die mit dem Geld gemacht, die es erhalten haben? Einfach eingesackt. Der Herr sei mit dir, das Geld bleibt bei mir.

Paket ohne Adresse

21 Mai 2007
Nachdem sein Vater gedroht hatte, er erschiesse die ganze Familie mit seinem Sturmgewehr, wurde er mit seinen Geschwistern in einem Heim platziert. Damals war er vierjährig. Die Erinnerung an körperliche und seelische Misshandlungen im Heim betäubt er mit Alkohol. Sein Lebensgefühl beschreibt er mit einem Bild: Ich bin gefangen in einem Paket ohne Adresse. Wie ferngesteuert geht es immer wieder zu und ich muss mich mit grosser Kraftanstrengung Schritt um Schritt wieder „herausschachteln“.

Ja doch - nein

15 Mai 2007
Nein, sie will nicht, dass ich die Mitteilung über die Mietzinserhöhung in meinem Ordner ablege, obwohl ich den Dauerauftrag bei der Bank ändern muss und obwohl ich sie bei einem Antrag um Erhöhung der Ergänzungsleistungen brauchen werde.
Nein, sie will nicht, dass die Sozialversicherungsanstalt die Post direkt an mich schickt, obwohl der Rentenausweis für die Steuererklärung verloren gegangen ist.
Nein, sie will nicht, dass ich ein Konto einrichte, über das alle Ein- und Ausgänge laufen, obwohl zwei Konti immer wieder zu Knappheiten auf dem einen oder anderen führen und ausgegelichen werden müssen.
Nein.
Ein ständiges Ausloten zwischen ihrer Selbstbestimmung und meinem Auftrag (den sie mir gegeben hat), ihre Finanzen zu verwalten, ein stetes Reiben an Grenzen, ein von Stacheln umstelltes Tasten nach Vertrauen, eine nicht enden wollende Machbarkeitsstudie über unsere Zusammenarbeit.
Jedoch ohne dies wäre sie bei einem Finanzverwalter besser aufgehoben.

Nicht alt, nur ein bisschen alt

5 Mai 2007
Mit einem Schmunzeln sagt die 85-jährige Frau: «Ich bin nicht alt, nur ein bisschen alt!». Sie setzt sich mit einem Seufzer: «Jedes Knöchlein spüre ich als ob Rost in den Knochen und den Schräubchen wäre, die sie zusammenhalten. Was soll's? Ich kann noch jeden Morgen aufstehen und das ist schön.»

Blast mir doch in d'Schuh

4 Mai 2007
Wie an jemanden herankommen, der rundum den Schwarzen Peter verteilt und gleichzeitig daran leidet? Wie etwas aufarbeiten, wenn sie jede Frage nach ihrem Anteil an dem Problem als Rumstochern in ihrer Seele bezeichnet? Ich lasse los, wir müssen nichts aufarbeiten, denke ich, sie geisselt sich mit ihren Problemen so lange sie will – da bringt sie in einem ungewollten Gedicht ihr Lebensgefühl zum Ausdruck:
Dieses Rumrennen
ohne Rast und ohne Ruh’
manchmal denk’ ich
blast mir doch in d’Schuh’

Warten

"Das Glück kommt schon", sagt die alte, erblindete Frau, "man muss nur warten können - ich meine, warten ohne zu warten."

Eigenes Restaurant

Versunken in ihren grünen Augen der Traum von einem eigenen Restaurant: Betreibungen, Mietrückstände, Trennung von ihrem Mann. Jetzt träumt sie von einem Zimmer, das sie hinter sich abschliessen kann.

Sterben als Erlösung

17 August 2015
Ich freue mich auf den Tod, denn das Leben ist ein Chrampf. Wenn ich meinen Rucksack von den Lasten befreit habe, wird Gott mich zu sich holen.

notiert von Serge Burgermeister

Wer bin ich

25 August 2015
"Wie geht es Ihnen", fragte ich die alte Frau.
"Wie es mir geht?"
Sie schien die Frage nicht zu verstehen und fuhr dann fort:
"Ich denke gar nicht an mich."

Unvorhersehbar

31 August 2015
Es kommt immer wieder etwas auf uns zu, das wir nicht machen können.

notiert von Bernhard Brack

Wassermangel

7 September 2015
Das Fass ist voll. Ich habe nicht mehr genügend Wasser, um so viel zu weinen, wie ich möchte.

notitert von S.Burgermeister

Kinderlos

10 September 2015
Als sie geboren wurde war ihr Vater an der Front. Sie wuchs mit fünf Geschwistern auf. Ihre Mutter wollte für den kleinen Bruder das Bett wärmen und legte deshalb das Bügeleisen unter die Decke. Das Bett fing Feuer.

Kühlturm

21 September 2015

Sie sei auf dem Land aufgewachsen, erzählt die Frau. Eigentlich. Am Abend seien sie oft auf einer Bank vor dem Bauernhof gesessen und hätten dem Sonnenuntergang zugeschaut. Im Sommer sei sie immer viel früher untergegangen im Dampf des nahegelegenen Atomkraftwerks. 

Überhört

28 September 2015
Sie hat Angst, Menschen zu begegnen, die sie kennt, weil sie in Ohnmacht fallen könnte, wie kürzlich im Park, als sie plötzlich umfiel und einen Ring von Menschen um sich stehen sah, als sie erwachte. Wieder ist ihre Bitte, nicht mehr aufstehen zu müssen, überhört worden.

Lieblingsgericht

28 September 2015
Gestern zwei Bewerbungen geschrieben, abgelehnt, vorgestern drei, den Bus knapp erwischt, Busse, und jetzt kein Geld mehr, um etwas heimzuschicken ins kriegsversehrte Land. Sie kocht, für sich allein, weil es einfach und günstig ist, Mutters Lieblingsgericht.

Der Aluminiumbecher

5 Oktober 2015
"In diesem Becher", sagte der Mann, "sind die Werte unserer Familie." Auf dem Grund des Bechers und auf der Seitenwand ist dieselbe Nummer eingestanzt. Es ist der Becher des Konzentrationslagers, in dem sein Vater war, weil er im Keller Juden versteckt hatte.

Sturz

9 November 2015
Die alte Frau hatte wegen eines Sturzes den Arm gebrochen. Von den Wochen danach erzählt sie: „Ich fühlte mich so einsam, ich war nur noch Arztbesuch und Wohnung.“

Sieben Himmel

16 November 2015
"Gottes Thron ist gross", erzählt ein Mann aus Afrika, "er sitzt auf der Welt, den Meeren und sieben Himmeln. Wo geht er spazieren?"

Wie lang sind deine Beine

1 Dezember 2015
fragte der Mann aus Afrika und schaute unter den Tisch. „Sie denken vielleicht knapp einen Meter lang. Aber sie sind viel länger, sie sind Teil eines Stammbaumes, der über Urururururururgrosseltern bis in die Serengeti reicht.“

Der Friede kommt wieder

10 Dezember 2015
Voller Begeisterung erzählt mir eine alte Frau folgenden Traum: "Ich komme nach Hause, aber die Wohnungstüre ist geschlossen, dafür sind alle Fenster offen. In der Mitte der Wohnung sitzt ein Taube. Ich verscheuche sie, will die Fenster wieder schliessen, aber sie kommt zurück. Da verstehe ich: Der Friede kommt wieder zurück!"

Ich will mit Erna spielen

29 M�rz 2016
Ihr Leben lang hatte sie bei reichen Leuten gedient. Das schönste Kompliment war für sie , wenn die Eltern den Kindern vorschlugen, in der Stadt ein Eis zu essen , die Kinder aber sagten: "Nein, wir spielen lieber mit Erna."

Weisheit

30 Dezember 2015
Sie hat vergessen, welcher Tag heute ist und vergisst ihn zwei Minuten, nachdem ich es ihr gesagt habe. Und sie erzählt die gleichen Geschichten immer wieder, vom swiss Girl, das sie in Kalifornien gewesen ist, oder von ihrem Aufenthalt in Genf: la vie est dure sans confiture ... Doch immer wieder entschlüpfen ihr weise Sätze, die verraten, weshalb sie trotz ihrer Einschränkungen so glücklich lebt: "Ich bin zufrieden mit dem, was auf mich zukommt."

Wie die Decke reicht

12 Januar 2016
Die Frau mittleren Alters bringt ein Geschenk mit. „Es ist ein bescheidenes Geschenk“, sagt sie, „aber in meiner Heimat sagen wir: Man kann sich nur so weit strecken, wie die Decke reicht.“

Ein eigenes Leben

1. März 2016
Mit sechs Jahren wurde sie einem Mann versprochen. Mit achtzehn flüchtete sie mit einem anderen Mann, den sie liebte - aus Angst, vom Vater umgebracht zu werden. Nach der Scheidung bekam sie die Diagnose Brustkrebs.
"Ich kann das Leben so nicht nehmen", sagt sie.
Hat sie es je empfangen?

Gott spüren

11 Februar 2016
Die Frau, die von Syrien in die Schweiz geflohen ist, erzählt:"Der Gott, mit dem ich Tag und Nacht spreche, wo ist er? In der Luft? Ich möchte ihn berühren, ich möchte ihn spüren."

Neustart

17 Februar 2016
Ich suche die Ferne, der Horizont ist mein Ziel
ihn einmal durchdringen, ich weiss das ist viel
Erfolg ist fraglich, doch mein Wille bleibt hart
Anfang ist Ende, des Lebens Fiasko der Start

RKM

Nach innen pfeifen

Die erblindete Frau, die vor einem Jahr ihren Mann
verloren hat, erzählt:
„Ich bin lieber mit den Vögeln, als mit den Menschen.
In ihrem Pfeifen höre ich meinen Mann und ich antworte ihm.
Ich habe gelernt, nach innen zu pfeifen.“

Startbahn

30. August 2016
Ich fühle mich wie ein Sprinter, der auf den Startschuss wartet.
Doch wüsste ich dann, wohin ich rennen soll?
Es ist wie im Boot auf dem Meer treiben,
ohne Kompass.

Sicheres Boot

5. Oktober 2016
Wenn das Boot auf den Wassern des Lebens kaputt ist, können nicht noch mehr Leute darauf Platz finden. Zuerst muss ich das Boot in Ordnung bringen.

Grenzen überschreiten

2. November 2016
Es gibt einen Punkt, an dem eine Grenze überschritten wird,
einen Wendepunkt, an dem sich Freude ganz plötzlich in Dunkelheit verwandelt.
Wenn ich nicht selbst vom hohen Ross der überschwänglichen Freude hinuntersteige,
zwingt mich Gott dazu, so scheint es.
Gibt es denn ein zu viel an Freude? Ein zu schön um wahr zu sein?

Formuliert von D. Gilgen

Wunderbar

4. November 2016
"Das Leben ist schön und Lachen kostet nichts. Wunderbar!",
pflegte eine fröhliche alte Dame zu sagen.

Hunger ist stärker als Angst

8. November 2016
Draussen hörte man den Krieg. Ich war alleine im Haus.
Damals war ich zehn. Trotzdem hatte ich keine Angst.
Ich hatte Hunger.
Der Hunger verschluckte alles.

Sieben Himmel

"Gottes Thron ist gross", erzählt ein Mann aus Afrika,
"er sitzt auf der Welt, den Meeren und sieben Himmeln.
Wo geht er spazieren?"

Am Ufer der Zeit

Die alte Frau erzählt amüsiert: „Manchmal, wenn ich am Abend im Bett liege, frage ich mich:  Du willst aber nicht sagen, dass du 93 Jahre alt bist!? Ich antworte mir: Doch, doch ich weiss, dass ich 93 Jahre alt bin. Aber ich erzähle es niemandem.“

Wohltat

14. August 2017

Durch meine Hilfe am Mitmenschen "beige" ich in den Himmel. Das ist viel wichtiger, als bloss aufs Bankkonto zu "beigen".

Formuliert von S. Keller

Spürbare Kraft

5. September 2017

"Mit Gott zu sein fühlt sich an, als ob Ameisen im Körper herumkrabbeln würden."

Formuliert von S. Keller

Verlass

17. Oktober 2017

Die 60-jährige Frau erzählt: "Ich habe gelernt, dass man alles selber erledigen muss. Das war ein zäher Prozess. Denn wer sich auf andere Menschen verlässt, ist verlassen von Anfang an."

Die Passionsblume als spiritueller Begleiter

Die Maracuja wurde von den Eroberern/Missionaren in Passionsblume umgedeutet, weil sie darin die Symbole Christus' sahen. Die Blüte gilt als Sinnbild der Passion Christi. Die drei Griffel werden mit den drei Nägeln verknüpft, mit denen Jesus gekreuzigt worden ist. Die fünf Staubbeutel sollen die fünf Wundmale darstellen, der Fruchtknoten gilt als Sinnbild für den Kelch des letzten Abendmahls und der Strahlenkranz als Dornenkrone. Zehn Blütenblätter für die Apostel, die bei der Kreuzigung anwesend waren, und auf der Rückseite die drei Deckblätter, die für die Dreifaltigkeit stehen.

Mich begleitet die Pflanze schon lange spirituell. Im Botanischen Garten gibts eine haushohe Pflanze mit roten Blüten.

Der Richter

Sie sei damals in eine Lebenskrise geraten, erzählt die alte Frau, habe Arbeit und Wohnung verloren. Da habe sie sich für eine Meditationswoche angemeldet, aber das habe nichts gebracht. Erst am Schluss, als ihr der Meister vier Worte gesagt habe, erst diese hätten ihr geholfen.
"Welche Worte denn", frage ich.
"Ich getraue mich fast nicht, sie zu sagen. Aus dem Zusammenhang gerissen, klingen sie nicht mehr so eindringlich, so weise. Aber ich sage sie trotzdem: Bist du der Richter?"

Weise?

"Bitte sagen Sie nicht, ich sei weise", sagt die alte Frau. "Ich habe zu der Weisheit in mir gefunden. Ich bin jetzt siebenundachtzig, aber wissen Sie, spirituell bin ich noch ganz jung, erst zwanzig."

Angst vor Gott

Der Mann, der an Rücken- und Knieschmerzen leidet, sodass er nur mit grössten Beschwerden aufstehen kann, bringt Rechnungen mit und sagt: "Ich habe Angst, Angst vor Schulden und vor Gott."
"Was macht Ihnen Angst vor Gott", frage ich ihn.
"Gott will, dass ich positiv denke, aber ich kann nicht positiv denken."

Ich bin bereit

"Die Todesanzeige ist geschrieben. Einzig das Datum fehlt. Ich bin bereit zu gehen."

Mein Lebensziel

"Dass meine Kinder etwas erreichen und sie sich gut in die Gesellschaft integrieren können. Bei mir kann ich gut verzichten, doch meinen Kindern möchte ich etwas bieten!"

Juckreiz

Eine Frau, deren Kinder verbeiständet sind, glaubt zu wissen, was gut für ihre Kinder ist, und äussert dazu folgendes Sprichwort: "Meine Hand weiss am besten, wo es juckt."

Der Spiegel

Das Leben ist wie ein Spiegel: Man hat alles, aber wenn man ihn dreht, bleibt nur die Leere.

Das Leben als drei Mahlzeiten

Eine Frau, die kurz vor ihrer Pensionierung ausgesteuert worden ist und die Sozialhilfeabhängigkeit als eine Schande empfindet, meint: «Die Kindheit ist wie ein Frühstück, das mittlere Alter wie ein Z’mittag und das Alter wie ein Dessert. Ich habe eine schlechte Kindheit hinter mir und bekam wenig. Als alleinerziehende Mutter dreier Kinder, wobei eines an Autismus leidet, musste ich viel kämpfen und bekam auch in dieser Zeit wieder wenig. Jetzt will ich, verdammt, wenigstens mein Alter geniessen können, ich habe es verdient.»

Immer nur muss

Mein Leben bestand bisher nur aus "muss". Muss in Afghanistan geboren sein. Muss auf meine Familie aufpassen. Muss Frau sein. Immer nur muss, muss, muss. Ich hatte keine Zeit, über mich nach zu denken. Was ich in meinem Leben möchte.

notiert von Ronya Sieber

Klick

Die Frau erzählt vom Unfall, der sie nach wochenlangem Koma ans Bett gebunden hat. Sie habe die Hoffnung aufgegeben, je wieder zu gehen. Nichts habe sie motivieren können.  
«Noch heute sehe ich ihn vor mir, meinen Freund, wie er mit einem Rollator ins Zimmer gekommen ist und gesagt hat: Komm, Schatz, wir üben zusammen. Wir möchten doch wieder Charleston tanzen.»
Da habe es bei ihr klick gemacht und Monate später seien sie zusammen tanzen gegangen.

 

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